Pilgern Pilgern: Auf dem Weg zum eigenen Ich
Halle/MZ. - Schritt für Schritt geht die schlanke Frau, bis sie nur noch den Takt der eigenen Füße fühlt. "Das Ziel zieht", sagt die 60-Jährige. Auf dem Rücken ein acht Kilo schwerer Rucksack, an dem eine Jakobsmuschel baumelt, das Erkennungszeichen der Pilger. Am Ende wird sie etwa eine Million Schritte gegangen sein. Das sind rund 700 Kilometer von Pamplona bis Santiago de Compostela, bis zum Grab des Apostels Jakob.
Der Jakobsweg ist neben den Strecken nach Rom und Jerusalem eine der großen Pilgerrouten der Christenheit. Im Mittelalter gingen die Menschen den Jakobsweg auf der Suche nach einer Wunderheilung oder damit Gott ihnen ihre Sünden vergibt. Heute sind viele der rund 100 000 Pilger jährlich auf der Suche nach sich selbst.
Auch wenn die Pilger streckenweise alleine wandern, wird an manchen Orten deutlich, wie viele Menschen unterwegs sind: Das "Cruz del ferro" (Eisenkreuz) ist auf einem riesigen Steinberg am Wegesrand, etwa 200 Kilometer vor dem Ziel, errichtet. Jeder Stein steht für einen Pilger, der Wünsche und Hoffnungen niedergelegt hat.
Der Verlauf des Weges steht fest. Die Pilger müssen nichts weiter tun, als einem Muschelsymbol durch Spanien folgen - auf Feldern, Asphalt, Waldboden und Stein. Durch das Baskenland, Navarra, Rioja, Kastilien-Leon und Galizien. Jede Provinz ist wie ein eigenes Land, etwas Typisches bleibt im Gedächtnis: Die Dörfer in Galizien mit den Storchennestern auf den Kirchtürmen, die Kathedrale in León oder die Weinberge im Rioja.
Auch wenn die Wegstrecke jeden Tag anders aussieht, hat der Pilgeralltag seine Routine. Er beginnt immer mit denselben Geräuschen: Erst ist da das Schnarchen, das in Schlafsälen mit bis zu 80 Betten entsteht. Wenn die ersten Pilger aufwachen, beginnt das Rascheln von Plastiktüten, in denen Mikrofaserkleidung, Socken, Unterwäsche, Handtuch, Schlafsack und Kulturbeutel verstaut werden, bevor alles in den Rucksack kommt. Lichtkegel von Taschenlampen schwirren dazu über die Gesichter der noch schlafenden Pilger. Viele Wanderer machen sich noch vor Sonnenaufgang auf den Weg.
Pro Tag gehen die Pilger 20 bis 30 Kilometer. Das sind je nach Beschaffenheit des Weges fünf bis acht Stunden Marsch. Jeder hat sein Tempo: Der Rentner mit den Teleskopwanderstöcken, der dem jungen Studenten die Geschichte der Klöster erzählt. Der Marathonläufer, der nur kurz "Bon Camino" - "Guter Weg" - ruft, seinen Puls kontrolliert und dann vorbeizieht. Die füllige italienische Großmama, die den Weg mit einer schweren Bibel im Gepäck bestreitet. Alle schleppen sich täglich die letzten Meter zur Herberge. Dort pflegen die Pilger Körper und Gepäck. Es sieht aus wie in einem Lazarett, und es riecht nach feuchten Socken und heiß gelaufenen Schuhen. In einer Ecke massiert eine Ungarin die Füße der Pilger, in der Gemeinschaftsküche föhnt ein Brite seine nassen Schuhe. Eine Amerikanerin zählt laut ihre Blasen. Beim Pilgermenü, meist Pommes frites mit Fleisch, dazu Rotwein, ist der Weg das Thema.
Nicht alle schaffen den Weg. "Viele überschätzen sich. Ich habe oft beobachtet, dass Leute abbrechen müssen", sagt Rosi Brüggenwerth. Wer den Weg doch schafft, steht kurz vor dem Ende wie schon viele Wanderer zuvor auf dem Monte do Gozo und erblickt zum ersten Mal die Türme der imposanten Kathedrale von Santiago. Scheinbar endlos zieht sich das letzte Stück bis zum Eingangsportal, obwohl das Ziel so nah ist. Auf dem großen Vorplatz fallen sich die Pilger in die Arme und werfen dann pflichtbewusst einen Blick in die Grabstätte des Apostels Jakob - nicht ohne den hektisch genuschelten Segen eines Priesters zu empfangen.