Niederlande Niederlande: Mit dem Fietser über die Insel

Hollum/dpa. - Aber an diesem Samstag hilft in Hollum nurnoch Absteigen: Wenn es hier einen Verkehrsfunk gäbe, würde er jetztChaos melden. Menschenmassen bewegen sich durch die Johan WilhelmBurgerstraat, an Kreuzungen kommt es zu Staus. Wer das Rad noch nichtabgestellt hat, muss schieben. Hunderte von Zuschauern wollen dabeisein, wenn die «Abraham Fock», das alte Rettungsboot der Insulaner,zu Wasser gelassen wird.
Im Sommer passiert das regelmäßig Samstag vormittags. Diesmal istalles allerdings noch lauter als sonst: In Hollum ist Musikfest. Unddie eine oder andere Musikgruppe, die nachmittags loslegen soll, istschon unterwegs in Richtung Reddingsmuseum. Paukenschläge sind zuhören, eine Tuba brummt, satter Trompetensound setzt ein - weit kannes nicht mehr sein. Je mehr sich die Menge dem Reddingsmuseum AbrahamFock nähert, umso enger wird es auf den schmalen Straßen.
Gebraucht wird das alte Rettungsboot nicht mehr. Längst hat dieInsel einen Seenotrettungskreuzer, der in der Ballumer Bucht vorAnker liegt und von dort aus in See stechen kann, falls jemand Hilfebraucht. Das alte Boot zum Einsatz zu bringen, war und ist mühsam,schon weil es aus Hollum auf einem Hänger mit Pferdekraft zum Strandtransportiert und ins Wasser gezogen werden muss. Trotzdem haben dieAmeländer daraus eine Tradition gemacht, die inzwischen weit über dieKüste hinaus bekannt ist.
Das «tewatering» ist eine Mischung aus Volksfest undTraditionspflege. Es erinnert an die Zeit, als das Retten vonMenschen in Seenot ein noch viel riskanteres Unternehmen als heutewar. So lange ist es noch gar nicht her: Erst Ende der 80er Jahre hatAmeland sein modernes Rettungsboot bekommen, nachdem mehrere Pferdein den Wellen ertrunken waren, als die «Abraham Fock» zum Einsatzmusste.
Vor dem Museum, in dem die «Abraham Fock» untergebracht ist, stehtschon eine Menschentraube. Auf die überdimensionale Boje vor demMuseum sind zwei Kinder geklettert, um besser sehen zu können.Paarweise werden die Pferde gebracht, zehn Stück insgesamt, undschließlich vor den Anhänger gespannt, auf dem das Rettungsbootlagert. Das Signal ist kaum zu hören, dann setzen sie sich schon inBewegung - und die Zuschauer auch. Hunderte von gut gelauntenMenschen ziehen hinter den Pferden her in Richtung Dünenkamm, und dieRadfahrer müssen schon wieder schieben. Eine Bläsergruppe hat auf demAnhänger eines Treckers Platz genommen und ist deshalb umso besser zuhören. Eine Band spielt «Schön ist es, auf der Welt zu sein».
Es ist wie Karneval am Wattenmeer. Viele Insulaner laufen mit,aber die große Mehrzahl sind Touristen. Auf den Dünen stehen Hundertevon Menschen. Wieder gibt es ein Signal mit derTrillerpfeife, undschon ziehen die Pferde den Anhänger mit der «Abraham Fock» über denStrand. Dann wird das Rettungsboot unter heftigem Applaus ins Wassergelassen. Ganz vorne in den Dünen wiegen sich «De AmelanderJuttersvrouwen» im Rhythmus, Strandräuberbräute also. Und auch werbeim Text nicht gleich mitkommt, die Melodie ist leicht zu erkennen:«Wir lassen uns das Singen nicht verbieten.»
Aber das ist Ameland im Ausnahmezustand. Üblichweise ist diekleine Watteninsel ganz anders: wie eine einzige riesengroßeSchafweide mit einem langen Sandstrand an der Seite. Die Schafe sindgerade geschoren worden und schauen noch etwas belämmert aus derWäsche. Am Himmel stehen weiße flauschige Kuschelwolken, bewegungsloswie aus Watte. Auf den Weiden blüht Klee, der Raps leuchtet gelb biszum Horizont. Und in den weißen Dünen reckt der Strandhafer seineHalme hoch. Vier Dörfer gibt es hier, und wer entscheiden müsste,welches das schönste ist, müsste lange grübeln.
Lineke Blokker wohnt in Hollum auf einem ehemaligen Bauernhof undvermietet Zimmer im früheren Kuhstall, was besonders bei Gästenbeliebt ist, die in Gruppen anreisen. «Die meisten Deutschen kommenwegen der Seeluft und den Stränden», erzählt sie. «Der Strand vonBallum ändert sich fast jede Woche, die Natur ist wirklich einKünstler.» Man darf das Auto zwar mit der Fähre mitnehmen. «Aber manbraucht es hier nicht», sagt Lineke. «Die meisten Ameländer habeneins, und manche fahren damit auch jede Woche. Aber wenn ich es sechsMal im Jahr benutze, dann ist das schon viel.»
Das kann man gut verstehen: Radfahren ist hier viel schöner alsAutofahren. «Fietsers» heißen Fahrräder auf Holländisch, wasirgendwie lustig klingt. Vielleicht macht das Radfahren auf Amelandauch deshalb so viel Spaß: «Niet op het strand!» und «Eén persoon perfiets!» lauten die beiden wichtigsten Regeln der Fahrradverleiher:Also, nicht auf den Strand fahren und nicht fünf Leute auf demGepäckträger mitnehmen. Darauf kann man sich einlassen.
Alle Dörfer sind mit dem Rad schnell erreicht. Von Buren bis Nes,wo auch viele Restaurants zu finden sind, ist es ein Katzensprung,bis Ballum nicht viel weiter. Die Häuser hier sind klein undschnuckelig, so gut wie keines hat mehr als zwei Stockwerke. Dafürsind viele schon sehr alt, wie die Ziffern aus Ankereisen an derFrontseite zeigen: Etliche wurden im 18. Jahrhundert gebaut, alsAmeländer als Kapitäne auf Walfangschiffen oft zu Vermögen kamen. DieStraßen sind mit roten Steinen gepflastert, denen man ansieht, dasssie schon etwas länger liegen. Manchmal fährt ein Trecker aus demDorf in Richtung Weideland, Autos sind selten zu sehen. Und das amOrtsrand ein Tempo-30-Schild steht, ist eigentlich überflüssig.
Hollum ganz im Westen der Insel hat ebenfalls viele schöne Seiten.Auch hier fallen die Kommandeurshäuser aus dem 18. Jahrhundert auf.In einem davon ist das kulturhistorische Museum Sorgdrageruntergebracht. Schiffsmodelle sind hier zum Beispiel zu sehen,außerdem Harpunen und ein Kinderkajak aus Grönland, das Walfängermitgebracht haben. Auch Amelands berühmtester Walfängerheld bleibtnicht unerwähnt: Hidde Dirk Kat war 1777 mit seinem Schiff im Eissteckengeblieben, hatte sich nach Grönland durchgeschlagen, wurde vonEskimos gerettet und schaffte es tatsächlich zurück nach Ameland.Wale gejagt hat er nie wieder. Sein Grab befindet sich auf dem altenFriedhof neben der Evangelischen Kirche, wo viele Grabsteine stehen,die an Kapitäne und Walfänger aus seiner Zeit erinnern.
Mit dem Rad ist es von Hollum nur eine Spritztour zum Vuurtoren,dem Leuchtturm von Ameland. Mit vier roten und vier weißen Ringenragt er 55 Meter in die Höhe und ist deshalb schon von weitem zusehen. Der niederländische König Wilhelm III. hat ihn 1880 bauenlassen, als die Schiffe noch kein GPS hatten und für jedesLeuchtsignal dankbar waren, das ihnen die Orientierung erleichterte. Ameland lag einst an der wichtigen Handelsroute von Brügge nachLübeck und Danzig. Für die Strandräuber der Insel waren das guteVoraussetzungen: Wenn Schiffe kenterten oder Ladung über Bord ging,gab es fast immer etwas zu holen. Aber das ist lange her.
Der letzte Leuchtturmwärter hieß André Ruygh und ist Anfang 2005in Ruhestand gegangen. Sein Arbeitsplatz ist noch zu sehen: seinFernglas, die Funksprechanlage, drei Telefone und zwei kleineMonitore, die wie aus dem Technikmuseum wirken. Der Leuchtturm istheute eine Touristenattraktion. 236 Stufen führen auf dieAussichtsplattform, und es lohnt sich, davor nicht zurückzuschrecken.Oben liegt einem Ameland zu Füßen: Man sieht, wie sich die hellenSandwege wie Äderchen über die Insel ziehen, man sieht die Radfahrerauf dem Weg zum Strand und am Horizont die Nordsee, deren Wellen mitviel weißer Gischt an Amelands Küste branden.
Am schönsten ist Amelands unberührter Inselosten, in dem manebenfalls am besten mit dem Fahrrad kommt. Hier gibt es keine Dörfer,dafür aber das Naturschutzgebiet Het Oerd, wo 60 Vogelarten brüten,Löffelreiher genau wie Silbermöwen. Wer mit dem Rad unterwegs ist,hört es zwitschern, pfeifen und tirilieren. Der Radweg führt parallelzum Dünenkamm, und wer eine Pause braucht, geht einfach an denStrand. Ein beliebtes Ziel ist die Aussichtsdüne Oerdblinkert, mit 24Metern Amelands höchste Erhebung.
Die Nachbarinseln Terschelling und Schiermonnikoog sind von hierzu erkennen. Auch das Festland kann man sehen - und um einen herumein Dünenmeer. Das Musikfest in Hollum ist jetzt ganz weit weg. Esweht eine kräftige Brise und pustet einen so richtig durch. Und einemfällt wieder ein, was Lineke Blokker vorhin gesagt hat: «Bei richtigkräftigem Wind ist Ameland am schönsten. Die Schwierigkeiten wehendann weg, das macht den Kopf frei.» Wo sie recht hat, hat sie recht.
