Marokko Marokko: Esel haben Vorfahrt
Halle/MZ. - "Und dazu braucht ihr nicht mal eine Zeitmaschine", lacht Mustafa, unser Guide. Der Marokkaner mit dem dunklen Lockenschopf und der erdbraunen Jellaba zeigt nach unten. "Dort wartet das Mittelalter auf euch."
Wir schauen vom Hügel auf ein Tableau kubischer Bauten zu unseren Füßen. Stolze Minarettspitzen streben zwischen den blauen, weißen und ockerfarbenen Häuserwürfeln aufwärts. Vergoldete Zinnen glänzen in der Vormittagssonne. Grüne Satteldächer sind ein Farbtupfer im Ensemble der Pastelltöne. Das also ist Fès, die älteste der vier marokkanischen Königsstädte. Die Metropole mit der größten Medina des Landes, der ältesten Universität und mit den lebhaftesten Souks, in deren Gassen-Gewirr von frühmorgens bis spätabends das Leben brummt wie in einem Bienenstock.
Nach kurzer Talfahrt mit dem Reisebus heften wir uns an Mustafas Fersen, der uns mit erhobenem Zeigefinger noch die wichtigste Verkehrsregel mit auf den Weg gibt: "Wenn ihr Balak-balak-Rufe hört, springt zur Seite. In Fès haben Lastenträger und Esel Vorfahrt", erklärt Mustafa. Sie sind das Transportmittel Nummer Eins in Gassen der Altstadt, die von einer trutzigen Stadtmauer umgeben ist.
Dann geht es los. Hinter dem hufeneisenförmig gebogenen blau-goldene Bab Boujeloud, eines von zwölf Stadttoren, empfängt uns Mittelalter. Die über 1 000 Jahre alte Medina, 1980 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt, ist kein inszeniertes Disney-Land für Touristen. Ungeschminkt und ungekünstelt zeigt sich die orientalische Diva. Allerorten - und vor allem in den Seitengassen - ist der Verfall von Fès el Bali sichtbar. Was dem quirligen Leben im Halbdunkel der Gässchen und der exotischen Ausstrahlung jedoch keinen Abbruch tut.
Lädchen reiht sich an Lädchen. Verkauft wird alles, was das Herz begehrt: Goldschmuck und Transistorradios, Süßigkeiten und Bücher, farbenprächtige Gewänder und silberne Teekannen, Kupfer-Schüsseln und exotische Gewürze, Parfüm und frisch gefangener Fisch. An jeder Biegung des überdimensionalen Handelsplatzes erwartet uns ein neuer Duft, ein neuer Hingucker. Wir lassen uns an der Seite von Mustafa im Labyrinth treiben. An die unentwegten Balak-Rufe, die augenblicklich eine Schneise in das Menschengewimmel schlagen, haben wir uns längst gewöhnt. Routiniert drücken wir uns an die erdbraunen Häuserwände oder springen kurz in ein Lädchen, um nicht im Weg zu stehen. Treten wir zurück in die morbiden Gassen, erhaschen wir noch einen Blick auf Mensch oder Esel, die mit aufgetürmter Last schnell im Gedränge verschwinden.
Wir bestaunen kunstvolle Brunnen, gepflasterte Innenhöfe und die aufwändigen Mosaike der Kairaouine-Moschee, mit 16 000 Quadratmetern Fläche die zweitgrößten Nordafrikas. Der Zugang ist uns als Nicht-Muslime allerdings verweht. Dafür sind wir umso willkommener in den mittelalterlichen Handwerksstätten. Wir schauen in einer Weberei zu, wie prächtige Stoffe entstehen, blicken Schuhmachern über die Schultern, die aus quittegelbem Leder Pantoffeln herstellen, bewundern die Fingerfertigkeit der Silberschmiede, die exotische Muster auf Teller und Kannen dengeln. Bei einem Teppichhändler trinken wir Tee, feilschen ein wenig und ziehen wieder ab - ohne Teppich.
Später, als wir ein paar Treppen hochsteigen, gelangen wir auf eine Dachterrasse. Dort empfangen uns ein penetranter Geruch und ein unerwarteter Anblick. "Willkommen im Reich der Gerber", spricht Mustafa theatralisch und breitet beide Arme aus. "Die Gegend und die Arbeitsweisen haben sich seit dem Mittelalter kaum verändert", erzählt der Marokkaner und lässt uns Zeit für unsere Beobachtungen.
Dicht an dicht stehen zwei, drei Geschosse tiefer und eingeklemmt zwischen Häuserwänden große Steintröge mit Naturfarben. Auf deren Rändern balancieren trittsicher spärlich bekleidete Männer mit Tierhäuten auf den Schultern. Mancher der Arbeiter steht bis zu den Knien in der Farbbrühe, um mit der Hand oder mit einem Stock die Häute zu drehen, damit sie gleichmäßig gefärbt werden. Wir ahnen die Strapazen und sind froh, als wir wenig wieder zu einem Stadttor gelangen, hinter dem die Gegenwart auf uns wartet.