Leichtathletik Leichtathletik: Ein blinder Läufer tourt durch Kenia

Kikuyu/dpa. - Wenige Worte genügen Henry Wanyoike, um sich dieAufmerksamkeit aller Jugendlichen und Erwachsenen im Raum zu sichern.«Ich dachte, mein Leben hat keinen Sinn mehr und wollte nur nochsterben. Genau wie manche von euch.» Als er kurz innehält, wird esunheimlich still in dem Klassenzimmer der Blindenschule von Machakos.Die meisten Schüler, die hier lernen, das Leben ohne Augenlicht zumeistern, sind wie er über Nacht erblindet. Vor zehn Jahren warWanyoike eines Morgens aufgewacht. «Ich dachte, es sei noch mitten inder Nacht, weil ich nichts erkennen konnte, doch draußen waren schondie typischen Morgengeräusche zu hören», erinnert er sich.
Wanyoike besucht seine ehemalige Blindenschule etwa 60 Kilometeröstlich von Nairobi, um den heutigen Schülern Mut zu machen. «Ich bininzwischen recht erfolgreich», sagt der Läufer, der mehrereWeltrekorde hält, und lächelt. «Und jeder von euch kann das auchschaffen.» Der 31-Jährige trägt eine dunkle Sonnenbrille, das T-Shirthängt über der Stoffhose. «Jeder von euch kann ein Weltmeisterwerden», sagt er und ignoriert das ungläubige Gemurmel. Obwohl diemeisten im Raum ihn nicht sehen können, ballt er immer wieder dieHand zur Faust oder deutet mit dem Zeigefinger auf die Zuhörer. «Ihrmüsst nur an euch glauben und jeden Tag hart an euch arbeiten.» Esklingt ein wenig wie in einem Motivationsseminar für Manager.
«Mein Vater hat gedroht, mich zu schlagen», erzählt Eunice Kabiruspäter stockend. «Erst wollte er mir nicht glauben, dass ich nichtsmehr sehe, dann wurde er sehr zornig.» Kabiru leidet erst seit kurzeman einer bisher unheilbaren Nervenkrankheit. Es kostet die 17-JährigeÜberwindung, vor der Gruppe von ihrem Schicksal zu sprechen. Blindehaben es schwer in Kenia - oft werden sie von ihren Familienverstoßen und öffentlich beschimpft. Viele Kenianer glauben, dassBlindheit in erster Linie ein Hinweis auf Drogenmissbrauch ist. DieBlindenschule in Machakos, die von der Christoffel Blindenmissionunterstützt wird, ist nicht nur Ausbildungsstätte, sondern vor allemTherapiestation.
Der Mann, der den blinden Wanyoike wieder zum Sportler gemachthat, sitzt ebenfalls unter seinen Zuhörern. Joseph Kibanga arbeitetseit 15 Jahren in der Blindenschule. Er habe den schmächtigen jungenMann zunächst nicht ernst genommen, als dieser ihn schüchtern gefragthabe, ob er ihn zum Laufen mitnehme, sagt der heutige Schulleiter.Damals war Wanyoike erst seit wenigen Monaten in Machakos.
Am nächsten Morgen war er bereits um halb sechs wach und warteteauf seinen Betreuer und die vereinbarte Trainingseinheit. Es wurdeeher ein vorsichtiges Herumstolpern, Wanyoike musste erst lernen,seinem Begleiter zu vertrauen, mit dem er am Handgelenkzusammengebunden ist. «Nach wenigen Trainingsstunden merkte ich, dasser es ernst meint», sagt Kibanga, der seinen Schüler kurz darauf beiden nationalen Ausscheidungen für die Paralympics im Oktober 2000 inSydney anmeldete.
An der unverputzten Wand des Klassenzimmers hängen Fotos vonWanyoikes Auftritt in Australien. Die Bilder seines ersten großenSieges gingen um die Welt. Bei dem 5000-Meter-Lauf brach seinBegleiter wegen des unerwartet hohen Tempos des Kenianers mehrereRunden vor Schluss zusammen. Am Ende zog Wanyoike ihn um die Bahnstatt umgekehrt. Trotzdem kam das Duo mit großem Abstand vor denVerfolgern in 15:46 Minuten ins Ziel.
Seine Goldmedaille bekam er erst drei Tage später, weil mehrereBeobachter seine Blindheit anzweifelten und auf medizinischeUntersuchungen bestanden. Als erwiesen war, dass der Kenianer nichteinmal Umrisse erkennen kann, war der 10 000-Meter-Lauf, bei dem ereigentlich auch noch antreten wollte, schon vorbei.
Wanyoike ärgert sich heute nicht mehr über die Zweifler, die ihmeinen möglichen Doppelsieg verwehrten. «Wir können alle Erwartungenübertreffen und Dinge schaffen, die uns niemand zutraut», sagt er denblinden Schülern in Machakos. Bei seinem ersten Marathon knapp zweiJahre später brauchte Wanyoike acht Begleitläufer. Keiner war in derLage, sein Tempo über 42 Kilometer mitzugehen. Seine Zuhörer lachen,Wanyoike lacht erleichtert mit. Das Eis ist gebrochen, der Mutmacherhat sein Ziel erreicht.
Unablässig tourt Wanyoike durch Schulen, Heime und Krankenhäuserin Kenia, um seine Geschichte zu erzählen. In manchen Wochen tritt eran zehn verschiedenen Orten auf. Einen Teil seines Geldes spendet erfür Augenoperationen, außerdem hat er eine Patenschaft für einblindes kenianisches Mädchen übernommen. «Er macht mich so stolz»,sagt Schulleiter Kibanga. Mit seiner Lebensfreude schaffe er es, auchdie Lehrer zu motivieren, die mit Behinderten arbeiten. «Durch seineMedienauftritte hat er unsere Schule bekannt gemacht und dafürgesorgt, dass endlich über das Schicksal von Blinden gesprochenwird», sagt Kibanga.
Wanyoike selbst begründet sein Engagement recht unbescheiden.«Wenn ich sterbe, soll mein Name den Leuten noch viele Jahre inErinnerung bleiben, weil ich Gutes getan habe», sagt er. «Wie beiMutter Theresa.»
Am nächsten Morgen trainiert Wanyoike in seinem Heimatort Kikuyu.Inzwischen hat er einen ebenbürtigen Trainingspartner gefunden.Joseph Kibunja wohnt nur wenige Häuser entfernt und begleitet ihnfast jeden Tag. Oft hängt der 30-Jährige nach dem gemeinsamenTraining noch eine Runde dran. «Ein Begleitläufer muss stärker seinals sein Schützling», sagt er. Die beiden Läufer müssen nicht mehrmiteinander reden, um sich über das Tempo zu verständigen. Kibunjazieht leicht an dem Stoffband, das um Wanyoikes Handgelenk gebundenist, um ihn vor Hindernissen zu warnen oder eine Kurve anzukündigen.
Es ist erst neun Uhr, doch die Sonne brennt schon auf dieLehmpiste, die an Wellblechhütten vorbei aus dem Ort herausführt.Frauen sitzen vor den Türen und spülen das Frühstücksgeschirr, Kinderspielen im Dreck. Fast alle kennen den blinden Läufer und rufenseinen Namen. Henry lacht jedes Mal und winkt zurück. Eigentlichlacht er den ganzen Tag. Gute Bekannte erkennt er an der Stimme undwechselt einige Worte mit ihnen, ohne langsamer zu werden. Das Duo inden schwarz-neongrünen Trainingsanzügen läuft an dem Slum vorbei, indem Wanyoike aufgewachsen ist. Von dort aus geht es durch Kartoffel-und Maisfelder in einen hügeligen Wald. Jedes Mal, wenn Wanyoike undKibunja bergauf laufen, steigern sie das Tempo.
«Manchmal behaupte ich, dass uns jemand einholt», sagt Kibunja«Dann läuft er noch schneller.» Wanyoike wurde noch nie von einemBlinden eingeholt, ihm fehlt jede ernsthafte Konkurrenz. Bei denParalympics in Athen 2004 gewann er Gold über 5 000 und 10 000 Meter.Mit den beiden Siegerzeiten - 15:11 und 31:37 Minuten - stellte erBlinden-Weltrekorde auf, die auf Jahre hinaus Bestand haben dürften,so lange er sie nicht selbst bricht.
Im vergangenen April verbesserte Wanyoike zwei Mal innerhalb einerWoche seine eigene Weltbestzeit im Marathon, zunächst in London unddann in Hamburg. «Eigentlich wollten wir in London nur Halbmarathonlaufen, um uns auf Hamburg vorzubereiten, aber dann waren wir gutdrauf und sind einfach weitergerannt», sagt er. Von seinen Erfolgenerzählt er wie ein kleiner Junge, der sich über einen geglücktenLausbubenstreich freut. In Hamburg erreichte er mit 2:31:31 Stundenunter mehr als 18 000 Läufern Platz 32 - und fand in deutschen Medienmehr Beachtung als der Sieger. «Inzwischen rufen mich sogar Leute ausdem Ausland an, um mir zu sagen, dass sie sich über meine Leistungenfreuen», sagt Wanyoike und lacht.
Bis zu den Paralympics 2012 möchte er noch bei Wettkämpfen laufen.«Bevor ich aufhöre, möchte ich im Marathon eine Zeit von 2:20 Stundenerreicht haben», sagt der Kenianer. Bis Mitte Oktober lief derschnellste sehende Deutsche in diesem Jahr 2:18 Stunden. Abereigentlich stehe bei seinen Auftritten ohnehin nicht das sportlicheAbschneiden im Mittelpunkt, meint er. «Es geht nicht ums Gewinnen,sondern darum Menschen Mut zu machen.»
Nach etwa einer Stunde kommt Wanyoike an einem Kindergartenvorbei, dessen Bau er finanziell unterstützt hat. Knapp 60 Kinder ausden Slums werden hier betreut. Viele von ihnen laufen zum Zaun undkreischen fröhlich, als sie den Läufer sehen. Fast täglich besuchtWanyoike den Ort, um mit den Kindern zu spielen. «Er strahlt Kraftund Lebensfreude aus», sagt einer der Betreuer. «Die Kinder spürendas.»
In seinem Haus bewegt sich der Blinde von Raum zu Raum, ohne nachWänden und Türen zu tasten, er hat sich jedes Detail eingeprägt.Sofort findet er den Wandschrank, in dem er zahlreiche Siegestrophäenaufbewahrt. Stolz präsentiert Wanyoike den größten Pokal, dieAuszeichnung zu Kenias Sportler des Jahres 2004. Seine Frau Myllowbringt Tee und Toast mit Margarine. Die beiden haben sich kennengelernt, als er sie nach dem Weg zur Telefonzelle fragte. «Ichdachte, dass er mich auf den Arm nehmen wollte, weil wir direkt voreiner Zelle standen», erzählt sie. Ob er etwa blind sei, habe siepatzig gefragt. «Da hat Henry gelacht und mich zu einem Kaffeeeingeladen.»
Bei seinem letzten Marathonlauf im Oktober in Graz litt Wanyoikeunter Magenbeschwerden. Das Ziel, den eigenen Weltrekord zuverbessern, rückte nach mehreren Gehpausen in weite Ferne.Schließlich kam Wanyoike nach 2:46 Stunden ins Ziel. Die Zeit war ihmso unangenehm, dass er sich mehrfach für seinen Auftrittentschuldigte. Er habe ihn zum Aufhören überreden wollen, sagte seinösterreichischer Begleitläufer Michael Buchleitner hinterher: «Er hatunglaublich gelitten.» Doch Wanyoike lief weiter. Er würde niemalsaufgeben, sagt der Kenianer. «Das habe ich ja auch nicht getan, alsich vor zehn Jahren blind geworden bin.»