Kommunismus trifft Kapitalismus Kommunismus trifft Kapitalismus: Mit Piercing und Stöckelschuhen
Halle/MZ. - Herr Xie hat mit Büromöbeln gehandelt und so viel Geld verdient, dass die Familie heute von seinen Aktien lebt. "Es geht immer nur bergauf", sagt Xie. Der Unternehmer leistet sich sogar einen ungewöhnlich kritischen Blick. "Die modernen Informationsmöglichkeiten etwa durch das Internet sind so riesig geworden, dass die Regierung damit rechnen muss, immer mehr an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn die von ihr kontrollierte Presse falsch berichtet."
Die Regierung, fügt Xie an, "macht viele Fehler, wir hören uns an, was sie zu sagen hat und gehen unseren Geschäften nach." Xie wagt nicht vorauszusagen, wie lange eine Gesellschaft die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher Freiheit und politischer Unmündigkeit klaglos hinnimmt. "Es wird sich etwas ändern, aber geht es in Richtung westliche Demokratie? Vielleicht findet China einen ganz anderen Weg", spekuliert er. Das aber sagt er nur im kleinen Kreis. Chinas Mittelschicht arbeitet, genießt - und schweigt.
Noch nie hätten so viele Chinesen ein so gutes Leben gehabt wie jetzt, meint Xie. Armut hat vier Ursachen, glaubt Wang Ming, Eigentümer eines kleinen Fuhrparks: Mangel an Mut, keine Beziehungen, ein zu langsamer Kopf, kein elterliches Erbe, das den Start erleichtert. Demnach ist jeder für sein Glück selber zuständig - die politischen Umstände haben in den Augen des Herrn Wang keine Bedeutung. Er brauche nur auf sein eigenes Leben zu blicken: Nach seinem Dienst in der Armee bekam er einen schlecht bezahlten, aber sicheren Posten in der Regierung. Seine Frau, eine Taxifahrerin, drängte ihn zu unternehmerischem Mut. Er kündigte, kaufte sich das erste Auto, dann das zweite und betreibt heute nebenbei eine Reisevermittlung übers Internet. Herr Wang ist dabei, reich zu werden und ein angenehmes Leben zu führen - so wie Millionen Chinesen, die in den letzten Jahren in die Mittelschicht aufgestiegen sind, die es in China noch nie gab. Selbst Kritiker Xie Jiankun stellt fest: "Uns geht es heute allen besser als früher, und jeder konzentriert sich darauf, wie er mehr Geld verdienen kann". Mit Trotz in der Stimme fügt Herr Wang an: "Wir sind noch nicht so weit wie die Amerikaner und die Europäer, aber wir holen auf." Viele Chinesen fühlten sich seiner Meinung nach durch das Ausland zu häufig durch die Brille der Rückständigkeit, der Armut, der Umweltverschmutzung und der politischen Willkür und Unmündigkeit betrachtet.
Vor Xies Augen hat sich die Provinzstadt Kunming in den vergangenen 15 Jahren völlig neu erschaffen: Aus dem alten, schmutzigen Ort mit schmuddeligen Hütten und seelenlosen Plattenbauten ist eine Großstadt geworden mit einem Einkaufsboulevard im Zentrum, der nicht nur von schicken Kaufhäusern gesäumt wird, sondern an dem sich Dependancen von Louis Vuitton, Versace und Escada angesiedelt haben.
Die Stadtverwaltung besinnt sich seit einiger Zeit sogar auf ihr kulturelles Erbe; die wenigen Relikte, die in der Kulturrevolution erhalten blieben, wurden restauriert. Auch darauf sind die Menschen in Kunming stolz. Natürlich stehen sie viel zu häufig im Stau, natürlich nebelt der Smog die Innenstadt allzu häufig ein, natürlich leben die Wanderarbeiter auf den Baustellen in primitivsten Verhältnissen - aber es gibt eben auch dieses andere China. Auch die Kundschaft von Kunsthändlerin Yang Li wächst und wächst: Die Frau, die früher ein karges Leben als Buchhalterin führte, kauft heute Bilder von Malern auf, um sie nach ein paar Jahren mit reichlich Profit zu veräußern. Sie und ihr Mann, der selbst Maler ist, haben sich gerade eine schicke Eigentumswohnung außerhalb Pekings für umgerechnet 70 000 Euro gekauft.
Sie sind nicht allein: In Yan Jiao, etwa 40 Minuten vom Pekinger Stadtzentrum entfernt, entstehen gerade mehrere gigantische Wohnviertel. "Hawaii Valley" nennt sich eines. Der Markt boomt. Schon im Rohbau sind die Wohnungen verkauft. Und wer sich eine Eigentumswohnung leisten kann, möchte irgendwann ein Kunstwerk besitzen - der weitere Aufstieg der Yang Li scheint gesichert. So wächst die Jugend in eine völlig neue Welt hinein.
"Politik? Nein, dafür interessiere ich mich nicht. Ich will nicht übervorteilt werden", sagt Dsa Dsa, die an der Universität von Kunming Ausländern Chinesisch-Unterricht gibt. "So denken wir alle", fügt die 24-Jährige an. Dsa Dsa ist wie viele junge Chinesen europäisch gekleidet und begeistert sich für den westlichen Lebensstil. Viele junge Frauen laufen selbst in der Provinz nabelfrei herum; Piercing und hohe Stöckelschuhe sind der Renner.
"Die meisten wollen sich vergnügen und Geld verdienen", sagt Dsa Dsa, um dann doch etwas verschämt anzufragen, wie es die jungen Europäer denn so mit der wahren Freizügigkeit halten? Wie geht man mit einem "blind date" um? Gibt es in Europa auch Heiratsvermittler - die in China bis heute ein Mittel der Eltern sind, einen passenden Partner für ihren Nachwuchs zu finden?