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Hiddensee Hiddensee: Stille Reize am Dornbusch

Von Ekkehart Eichler 26.10.2006, 19:52

Halle/MZ. - Hier leben mehr Rösser pro Einwohner als irgendwo sonst in Deutschland. Aber woher stammt diese unglaubliche Frische? Die Er-leuchtung kommt nicht sofort, dafür aber umso intensiver: Was fehlt, ist die Komponente Verbrennungsmotor. Es gibt sie weder als stinkenden Nasenreiz noch als nervtötenden Krach - ein höchst angenehmer Zustand.

Auf maximal zwei Dutzend Autos beziffert Kurdirektor Alfred Lan-gemeyer den motorisierten Fahrzeugbestand auf Hiddensee: Arzt, Rettungssanitäter, Polizei, Feuerwehr, Inselbus, ein paar Versorger. Fahrräder sind das Hauptverkehrsmittel. Pferde stehen für Taxifahrten oder Kremserausflüge zur Verfügung. Das Resultat: Hiddensee verwandelt Lärm in Stille, Hektik in Ruhe.

Blitzende Shopping-Malls und quirlige Spaß-Center hat die Ostsee-Insel nicht nötig zur Anmache. Ihre Verführungskünste sind subtiler. Auf knapp 19 Quadratkilometern verblüfft eine enorme Landschaftsvielfalt aus schönen Sandstränden, steilen Klippen, weiten Salzwiesen, heideüberwucherten Dünen, moorigen Reetdickichten. Ihr Trumpf sind die stillen Reize: goldene Sanddornhecken und violette Heideteppiche.

Viele Prominente zog die Insel genau damit in ihren Bann. Albert Einstein, Thomas Mann, Billy Wilder, Heinrich George, Joachim Ringelnatz verbrachten hier viele Sommermonate. Andere wie Gerhard Hauptmann, Asta Nielsen, Käthe Kruse oder Gret Palucca verliebten sich so leidenschaftlich in die unprätentiöse Schöne, dass sie gar eigene Häuser bauten oder kauften. Diesen Charme zu bewahren, sieht sich auch der Kurdirektor verpflichtet. Im touristischen Leitbild ist deshalb nicht nur die Autofreiheit festgeschrieben, auch die Zahl der Gästebetten bleibt begrenzt. Als Nationalpark steht Hiddensee zudem unter besonderem Schutz, ausgenommen sind lediglich die Ortslagen. Diese wiederum haben historische Eigenarten, die erhalten bleiben sollen: Kloster als kulturelles und kirchliches Zentrum, Vitte als moderner Hauptort. Neuendorf mit seiner denkmalgeschützten Dorfstruktur, Grieben als idyllisch-dörflicher ältester Ortsteil.

Steht die Zeit also still auf Hiddensee? "Vieles, was bei uns seit der Wende passiert ist, sieht man gar nicht," erklärt der Kurdirektor: So wurde mit Klär- und Wasserwerk, Gasleitungen und Telefon die Untergrund-Infrastruktur auf Vordermann getrimmt, die drei Häfen umfassend modernisiert. Seit 1998 sendet Wetterfrosch Stefan Kreibohm täglich seine Vorhersagen aus dem ARD-Wetterstudio Nord. Dank modernster Wettermesstechnik weiß man, dass Hiddensee der sonnigste Ort Deutschlands ist - ein weiteres Plus auf der Habenseite.

Spitzenreiter ist Hiddensee aber auch in puncto bewegte Luft. Und wenn Stefan Kreibohm für die nächsten Tage Windstärken bis 9 aus West prognostiziert, dann knallt der Wind mit brachialer Kraft in voller Breitseite auf Hiddensees Westküste, treibt das wütende Meer frontal ans Ufer und poliert den Sand des 15 Kilometer langen Strandes. Doch welche Überraschung: Wenige Meter landeinwärts bleibt von den Böen nur noch ein laues Lüftchen - der natürliche Wall aus Sanddorn-, Hagebuttenhecken und Sträuchern schützt.

Die Nachsaison ist ideal für die Wanderer, die sich am Strand oder im Hinterland auf stundenlange Touren begeben. Für die Bernsteinsammler, die nimmermüde in der Ostsee herumstaksen. Für die Eisbären, die sich nackt in die empfindlich kühlen Fluten stürzen. Für Esoteriker, die sich Steinkreise am einsamen Strand legen.

"Ich würde niemals von hier weggehen", sagt Stephan Wolter, der auf Hiddensee geboren ist. Wie die meisten Insulaner lebt er vom Tourismus, mit seinen Pferdewagen kutschiert er Gäste über die ganze Insel. Unterhält sie prächtig mit frechen Sprüchen und derbem Humor, erklärt ihnen Besonderheiten von Land, Landschaft und Leuten und führt sie an verträumte Ecken und Winkel, die man allein nie finden würde. Dabei plädiert er leidenschaftlich dafür, Hiddensee gerade im Herbst oder Winter zu besuchen. Dann sei es nicht nur wunderschön im Revier, sondern auch so richtig ruhig. Und Ferienwohnungen ohne Heizung, das sei schlichtweg eine üble Nachrede böswilliger Konkurrenz auf dem "Kontinent".

Wetterfrosch Stefan Kreibohm bekommt ebenfalls glänzende Augen, wird er auf den Winter auf Hiddensee angesprochen. Schon schwärmt er vom Raureif auf den Nadelpuscheln der Windflüchter. Von den glitzernden Eis-Barrieren auf dem Bodden, der jedes Jahr zuverlässig zufriert. Vom Fährschiff Vitte, das dann immer wieder das Eis bricht und damit die Verbindung zur Außenwelt offen hält. Und er schwärmt von der unglaublichen Ruhe auf dieser unglaublichen Insel.