Frankreich Frankreich: Durch Schlachthof und Schrebergarten - Eine Wanderung durch Paris

PARIS/DPA. - Frankreich ist bekannt für sein ausgezeichnetesNetz von Fernwanderwegen. Oft führen sie durch herrlicheLandschaften, manchmal durch urbane Gefilde. Selbst in Paris ladenmarkierte Wanderwege dazu ein, die Stadt auf dem Fußweg zu entdecken.Dabei gibt es soviel zu sehen, dass man nicht einmal halb so schnellvorankommt wie in der freien Natur.
Es scheint so, als ob eine der Kugeln eines gigantischenBoule-Spiels davongerollt sei. In ihrer silbernen Oberfläche spiegelnsich die Wolken. Die «Géode», ein halbkugelförmiges Kino im PariserParc de la Villette, zählt zu den Bauten, die früher futuristischgenannt wurden und heute schon ein wenig aus der Mode gekommenwirken. Touristen zieht der Ende der 70er Jahre angelegte Park kaumnoch an, allenfalls Schulklassen, die in Zweierreihen fröhlichschnatternd über die weite Fläche zu einem der Museen laufen.
Porte de la Villette ist Ausgangspunkt eines 20 Kilometer langen Wanderweges, der Paris von Norden nach Süden durchquert und mitgelb-roten Streifen markiert ist. Die kleinen Aufkleber aufLaternenpfählen und Ampeln sind allerdings nicht leicht zu sehen,ohne Karte und Beschreibung lässt sich der Weg entlang bekannterSehenswürdigkeiten und durch quirlige Viertel kaum finden.
Ballett-Tänzerinnen hüpfen grazil durch den Übungsraum
Am ehemaligen Schlachthof im Pariser Norden hüpfen heute jungeBallett-Tänzerinnen grazil durch den Übungsraum des Konservatoriums.Im 19. Jahrhundert veranstalteten hier tagtäglich 12 000 Metzger einblutiges Gemetzel, um die gesamte Hauptstadt mit Fleisch zuversorgen. Die Tiere kamen per Bahn vom nahegelegenen Viehmarkt. DieSchlachterei wurde erst in den 70er Jahren eingestellt, als derTransport per Kühllaster auch längere Transportwege zuließ.
Der Wanderweg führt entlang der alten Bahnstrecke durch einViertel mit tristem Stadtrandcharme: Kettenhotels, Mietskasernen,eine Betonkirche, die an einen Atommeiler erinnert. Hübscher wird esein paar Schritte weiter im Stadtteil Belleville, ein putziges Dorfmit Fachwerkhäuschen, gusseisernen Laternen und blühenden Gärten.Hier liegt eine Katze auf dem Fenstersims, dort lehnen Golfschlägeran der Hauswand. Das Leben scheint hier geruhsamer als anderswo inParis. Mehrstöckige Gebäude werden hier niemals stehen, so groß dieWohnungsnot in Paris auch sein mag. Denn der Untergrund vonBelleville ist von einem alten Steinbruch tief ausgehöhlt.
Im Park Buttes-Chaumont drehen zu jeder Tageszeit Jogger ihreRunden. Auf einem kleinen Platz üben zwei Dutzend Sportler diefließenden Bewegungen des Tai Chi. Der Park mit Wasserfall undEntenteich zählt zu den größten Grünflächen in der Stadt. Auf einemHügel trohnt sogar die Kopie eines römischen Vestalinnen-Tempels -der beste Platz für eine erste Wanderpause mit Blick auf Sacré-Coeurund Paris, das der Basilika dem Hügel von Montmartre zu Füßen liegt.
Außerhalb des Parks führt eine lange steile Treppen, die imunscheinbaren Torbogen eines Hauses beginnt, hinauf auf einenweiteren Hügel, den Butte Saint Chaumont. Oben angekommen steht derWanderer inmitten eines weiteren verschlafenenKopfsteinpflaster-Dorfes mitten in Paris. Es gibt sogar einenWeinberg und einen kollektiven Schrebergarten mit Blick auf denEiffelturm.
Selbst Gartenzwerge und Vogelscheuchen sind willkommen
Solche Gärten, in denen Kinder und Erwachsene mitten in derGroßstadt bunte Blumen und Gemüse anbauen können, werden immerbeliebter. Selbst Gartenzwerge und Vogelscheuchen sind willkommen.Wann immer einer der Hobby-Gärtner anwesend ist, steht der GartenBesuchern offen. Und mindestens einmal im Jahr steigt ein Fest, fürdas ein Teil der Ernte zu Köstlichkeiten verarbeitet wird.
Vom 19. geht es weiter ins 10. Arrondissement, in dem Nord- undOstbahnhof liegen. Das Straßenbild wird bunt und international. Amspäten Vormittag ziehen Hausfrauen ihre vollgepackten Einkaufstaschenauf Rollen nach Hause. Ein jüdisch-orthodoxer Vater schiebt einenKinderwagen, seine junge Frau hat ein buntes Seidentuch über ihrenHaardutt verknotet. In einer muslimischen Metzgerei hängen anFleischerhaken tiefrote Rinderteile von der Decke. Aus einerChina-Boutique heraus winken Katzenfiguren. Die Rue de Sainte Marthebietet auf wenigen Metern gleich drei exotische Restaurants: einruandisches, ein brasilianisches und eines mit Gerichten ausFeuerland.
Wer immer wieder einmal Fassaden oder Hinterhöfe anschaut, vondenen sich bis zu fünf hintereinander reihen, der ist am Mittag nichtweiter gekommen als bis zum Kanal Saint Martin. Bei Sonnenschein gibtes nirgendwo in Paris einen Ort an dem es sich hübscher picknickenlässt als hier unter den Platanen am Ufer.
Der Kanal St. Martin wurde Anfang des 19. Jahrhunderts gebaut, umdas Wasserreservoir von Villette - dem Ausgangspunkt der Wanderung -mit der Seine zu verbinden. Knapp die Hälfte des 4,5 Kilometer langenKanals verläuft unterirdisch. Erst kurz vor der Mündung bei derBastille wird er wieder sichtbar. Mit einem Höhenunterschied von 25Metern und neun Schleusen ist er für die Schifffahrt reichlichunpraktisch. Heute wird er vor allem für touristische Kahnfahrtengenutzt, die einen anderen Blick auf Paris bieten als die klassischeTour auf den Mouches genanten Seine-Booten.
Der Wanderweg kreuzt die drei großen Boulevards, die von der Placede la République nach Osten führen und jeweils einen kurzen Blick aufdie Marianne-Statue bieten, dem Start- oder Endpunkt der meistenDemos in Paris. Dahinter beginnt das Marais-Viertel, in dem dieVersuchung am größten ist, den markierten Weg zugunsten kleinerAbstecher zu originellen Läden zu verlassen. Ein Spezialist fürHängematten, ein Geschäft nur für Kakteen oder ein Teddybären-Händler- das alles ist in dem Viertel zu finden.
So viel Originalität hat ihren Preis
So viel Originalität hat ihren Preis: Der Designerstuhl ausStahldraht und zwei unbehandelten Holzplatten kostet 2000 Euro. Einschlichtes Kleidchen für Kleinkinder schlägt mit knapp 60 Euro zuBuche. Schicke Klamottenläden und Friseursalons haben zum Bedauernvieler schon einige der für das Viertel charakteristischen jüdischenRestaurants oder Lebensmittelgeschäfte verdrängt.
Das Viertel am rechten Seine-Ufer war erst durch die Trockenlegungvon Sümpfen (marais) Bauland geworden. Vom 17. Jahrhundert anentstanden zahlreiche Villen und Stadtpaläste. Etwa 200 von ihnensind erhalten geblieben und beherbergen heute Bibliotheken undMuseen. Im Hôtel Salé befindet sich das berühmte Picasso-Museum, dasderzeit wegen Renovierungsarbeiten geschlossen ist.
Paris-Wanderer riskieren immer wieder, vom verlockenden Angebotder Bäckereien und Konditoreien vom rechten Weg abgebracht zu werden.Törtchen mit sorgfältig gehäuften Beerenfrüchten, tiefdunkleSchokoschnitten mit Blattgoldfetzen oder pistaziengrüne Makronen sindnur drei der süßen Versuchungen, die am Wegesrand lauern.
Die rot-gelbe Markierung führt durch schmale Gassen zum Seine-Uferhinunter, über den Pont Marie auf die Île Saint-Louis. Es ist diekleinere und ruhigere der beiden Seine-Inseln. Ihre westliche Spitzeist ein Ort der Entspannung, vor allem bei Sonnenuntergang. Im Sommerliegt dort Picknick-Decke an Picknick-Decke, und an lauen Abendenherrscht schnell Volksfeststimmung.
Ein Ort der Entspannung, vor allem bei Sonnenuntergang
Auf dem Pont St. Louis, der zur Île de la Cité hinüberführt, sitztein alter Mann mit Rauschebart und Schlägermütze und spielt auf einemfahrbaren Mini-Klavier. Der Weg führt von hinten an die KathedraleNotre Dame heran, macht vorher aber noch einen Schlenker über dieInsel. Dort steht beispielsweise das Haus, in dem sich eines derberühmtesten Liebespaare des Mittelalters, der Philosoph Abélard undseine Schülerin Héloïse, getroffen haben soll. In der Nähe markiertein kleines Schild die Höhe der Flut von 1910. Augenhoch stand dasWasser damals.
Die Île de la Cité mit Notre Dame war die Keimzelle von Paris,bevor sich die Stadt auf die Seine-Ufer ausweitete. Die gotischeKathedrale ist bis heute ein wichtiges Zentrum der katholischenKirche - und zugleich einer der touristischen Höhepunkte vielerParisbesucher. Die umliegenden Läden verkaufen Eiffeltürme in allenFarben und aus allen Materialen, Tour-de-France-Strampelanzüge,Baskenmützen, Kühlschrankmagneten, Schneekugeln und Stringtangas mitLiebeserklärungen an die französische Hauptstadt.
Vom Ende der Nord-Süd-Durchquerung am Parc Monceau ist man an derKathedrale noch gut zwölf Kilometer entfernt. Aber bei all denEntdeckungen am Wegesrand wäre es schade, die Strecke schneller zugehen. Und die Steinbänke vor der Fassade von Notre Dame imAbendlicht laden ohnehin dazu ein, die müden Beine ausstrecken undeinen erlebnisreichen Tag in Gedanken Revue passieren zu lassen.
