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Fiat und Feudalismus Fiat und Feudalismus: Turin lebt vom Erbe verschiedener Epochen

Von Thomas Kärst 11.03.2003, 11:28
Prächtigster Platz der Stadt - die Piazza San Carlos (Foto: dpa)
Prächtigster Platz der Stadt - die Piazza San Carlos (Foto: dpa) Citta di Torino

Turin/dpa. - Dynastien lieben Denkmäler - das zeigt ein Gang durch Turin. Gleich zwei Familien haben der Hauptstadt des Piemont ihren Stempel aufgedrückt: Die adeligen Savoyer, seit 1563 in Turin ansässig, hinterließen vor allem Schlösser, Kirchen und Statuen. Später kamen die bürgerlichen Agnellis. Mit Fiat, der «Fabbrica Italiana Automobili Torino», legten sie 1899 den Grundstein für das moderne Turin. Doch spätestens seit der Krise des Autokonzerns hofft Turin auf den Tourismus. Der Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2006 setzt dabei vor allem auf Sport und Kultur.

Bei aller automobilen Geschichte ist Turin eine Stadt der Fußgänger geblieben: Barocke Arkaden säumen die Straßen des Zentrums auf einer Länge von 18 Kilometern. Unter den hohen Bögen wechseln sich kleine Straßencafés mit Verkaufsständen ab. Automatisch lenken die Arkaden den Spaziergänger zu einem der vielen Plätze - etwa der Piazza San Carlo, die mit ihren herrschaftlichen Fassaden und den beiden Kirchen San Carlo und Santa Cristina zu den schönsten Barockensembles der Stadt zählt.

Auf dem Grundriss eines römischen Militärlagers am Po wuchs Turin im Schachbrettmuster. «Wir Turiner verlaufen uns in anderen Städten ständig - außer vielleicht in Manhattan», sagt Stadtführerin Laura Scarlazzetta. Auf römischen Fundamenten thront auch das wohl eigenwilligste Bauwerk der Innenstadt, der Palazzo Madama. Klingelnd fährt die Straßenbahn an der turmbewehrten Zwingburg vorbei, deren Hauptfront eine Barockfassade schmückt.

Etwas abseits des Verkehrsgewühls liegt der Palazzo Reale, einst Residenz der Savoyer. Schulklassen drängeln sich auf dem Vorplatz und haben hier italienische Geschichte zum Anfassen. Immerhin stellten die Savoyer bis 1946 die Könige Italiens - und im Palazzo Carignano gleich um die Ecke tagte 1861 das erste italienische Parlament.

Die bedeutendste Sehenswürdigkeit der Stadt allerdings findet sich neben dem Königspalast im Dom San Giovanni Battista - doch zu sehen ist sie vermutlich erst wieder im Jahr 2025: Die Sacra Sindone, das angebliche Grabtuch Christi. Es wird nur alle 25 Jahre gezeigt. Auch wenn moderne Forschungen die Entstehung der Reliquie auf das Mittelalter datieren, schmälert das ihre Anziehungskraft kaum. Die bislang letzte öffentliche Ausstellung im Jahr 2000 zog in zwei Monaten rund 900 000 Pilger und Neugierige an.

Gourmets schätzen Turin unter anderem wegen der Giandujotti, kleinen Pralinen aus Nougat. Angeblich war es der Savoyer-Herzog Emanuele Filiberto, der im 16. Jahrhundert die ersten Kakaobohnen nach Turin brachte und die Stadt so zur Geburtsstätte der Schokolade machte. Tatsache ist jedenfalls, dass die Konditoren der Stadt immer wieder neue Süßigkeiten erfanden, von den nussigen «Baci di Cherasco» bis zu den mit Rum verfeinerten «Cuneesi». Nostalgisch geht es im 1763 eröffneten «Bicerin» an der Piazza della Consolata zu. In dem holzgetäfelten Café nahmen schon Alexandre Dumas und Friedrich Nietzsche den hier servierten, mit Schokolade verfeinerten Kaffee zu sich.

Derart gestärkt lässt sich auch eine Fahrt auf den höchsten Punkt Turins wagen - die Mole Antonelliana. Ein leichtes Schwindelgefühl stellt sich dennoch ein, wenn der gläserne Fahrstuhl das Innere des Kuppelbaus emporfährt. Einst war das als Synagoge geplante Bauwerk mit 167 Metern das höchste nur aus Steinen und Ziegeln errichtete Bauwerk der Welt. 1953 stürzte es teilweise ein, wurde - mit Stahl verstärkt - wiederaufgebaut und beherbergt heute eines der größten Kinomuseen Europas. «Ende des 19. Jahrhunderts war Turin die Filmhauptstadt Italiens», berichtet Museumsmitarbeiterin Beatrice Lucca.

Ein Dialog zwischen historischem Bauwerk und moderner Kunst ist südlich des Zentrums gelungen: Hier errichtete Fiat ab 1915 ein gigantisches Fabrikgebäude, den Lingotto: Ein fünfstöckiges Gebäude, rund 800 Meter lang und 400 Meter breit, gekrönt von einer Autoteststrecke auf dem Dach. Als der Fiat-Konzern Anfang der achtziger Jahre auszog, baute der Stararchitekt Renzo Piano den Fabrikkoloss in ein Handels- und Kulturzentrum um. Kernstück ist die Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli, welche die private Kunstsammlung der Familie beherbergt - darunter Werke von Picasso, Matisse, Manet und Renoir.

Dem Anfang 2003 verstorbenen Familienpatriarchen Giovanni Agnelli wird auch erheblicher Einfluss auf Turins erfolgreiche Olympiabewerbung zugeschrieben. So verwundert es nicht, dass das Büro des Organisationskomitees für die XX. Olympischen Winterspiele im Lingotto zu finden ist - und auch das Olympische Dorf soll in einem Zwei-Kilometer-Radius rund um die alte Fabrik entstehen, so Komitee-Mitarbeiter Loris Gherra.

Er erläutert die geplanten Umbaumaßnahmen in der Stadt: Das alte Juventus-Stadion wird für die Spiele umgebaut, die U-Bahn erweitert, neue Züge sollen die Wintersportorte in den Bergen wie Sestriere, Pragelato und San Sicario mit Turin verbinden. «In 40 Minuten sind Sie per Zug in den Bergen», verspricht Gherra. Der Ort der Winterspiele sei insofern klug gewählt: Wer vom Sport genug habe, könne ja immer noch ins Theater oder ins Museum gehen.

Informationen: Staatliches Italienisches Fremdenverkehrsamt (ENIT), Kaiserstraße 65, 60329 Frankfurt (Tel.: 00800/00 48 25 42, Fax: 069/23 28 94)

Gleichmäßig wie ein Schachbrett - die Straßen Turins (Grafik: dpa)
Gleichmäßig wie ein Schachbrett - die Straßen Turins (Grafik: dpa)
Sven-E. Hauschildt