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«Der Wolf der Meere» «Der Wolf der Meere»: Alles Störti, oder was?

Von Marlene Köhler 15.08.2003, 18:05

Halle/MZ. - Auch weist er hin auf die Kirche links und die Weiden rechts, bemerkt noch, dass die Festspiele jetzt seit zehn Jahren "die Idylle des Ortes auflockern" und wir Kleingeld passend bereithalten sollen für die Rückfahrt später. Doch da sind wir schon angekommen, haben keine fünf Minuten gebraucht vom riesigen Parkplatz, auf dem Autos aus allen Bundesländern dicht bei dicht die deutsche Einheit demonstrieren, bis zum Areal vor der Naturbühne mit ihren 9 000 Sitzplätzen.

Noch ist nichts von der Arena zu sehen, vor die Kunst haben die Festspiele den Rummel gesetzt: Unter Nissan- und Stralsunder Brauerei-Fahnen lockt die "Billig süße Kiste"; die Störti-Butik verkauft alles, was der Hobby-Seeräuber braucht - das "Original Störtebeker-Hemd" für 45 Euro, Piratentücher, Flaggen und CD's. Und da kommt er schon, der Balladensänger im bunten Flickenmantel, Wolfgang Lippert, und wird von den Besuchern umringt, als wäre er der Star des Abends.

Weiter, weiter! Vorbei am Bier der Gerechten für 2,50, an Snacks, Fisch, Bratwurst und Champagner. Sogar Glühwein hat's. Noch lächeln wir drüber, bei diesen Temperaturen im August. In der 25-minütigen Pause gegen halb zehn werden wir ihn zu schätzen wissen. Endlich ist der Spielort erreicht, das Staunen kann beginnen. Zunächst über die Kulisse am Großen Jasmunder Bodden, die das Jahr 1393 spiegelt: links Bürger- und Hansehäuser, rechts die Festung Stockholm, dazwischen die tiefblaue See, auf der Piratenschiffe kreuzen. Woher wird er kommen, Störtebeker, "Gottes Freund und aller Welt Feind"? Zeit zum Grübeln bleibt nicht, es geht gleich los mit Kanonendonner.

"Der Wolf der Meere" heißt das Stück in diesem Jahr, wie immer aus der Feder des Intendanten Peter Hick. Und wie immer geht es um Macht, Reichtum und ein bisschen Liebe. Doch ist anno 2003 etwas neu: Hick und sein Regisseur Holger Mahlich schicken den Robin Hood der Meere erstmals über Nord- und Ostsee hinaus bis nach Kastilien, einen Wundermörser zu kapern, mit dem man die Festung Stockholm stürzen will.

Das gibt dem Team Gelegenheit, an den drei Standorten Stralsund, Spanien und Stockholm ein gar prächtiges Bühnenbild mit fahrbarer Kathedrale, aufklappbarer Festung und Riesenkanone zu bauen, durch das mal wilde Reiter jagen, mal Seeadler, in dem es Artistik, Massen- und Fechtszenen gibt und ganz stille zwischen Liebespaaren, fast zum Schluss auch Feuer und ein Schafott. Doch Störtebeker (Sascha Gluth) und sein Vitalienbruder Goedeke (Dietmar Lahaine) werden ihm entkommen, schließlich steht schon fest, dass sie im nächsten Jahr "Im Zeichen des Kreuzes" kämpfen müssen. Wirklich wichtig ist die mit witzigen Anspielungen gespickte Handlung, die Erfundenes vor historischem Hintergrund erzählt, eigentlich nicht. Freilichtkunst, so zeigt sich wieder einmal, lebt weniger vom Inhalt als von der Form.

Aber die ist so beeindruckend, dass die Störtebeker-Festspiele auf Rügen inzwischen auf Platz eins unter den 60 erfolgreichsten Sommerfestspielen Deutschlands gelandet sind. Daran haben Intendant Peter Hick, ehemaliger Defa-Stuntman, und seine Schweizer Frau Ruth bestimmt nicht gedacht, als sie 1993, nach zwölfjähriger Pause, die schon zu DDR-Zeiten gefeierten Festspiele wieder zum Leben erweckten. Mit großem persönlichen Risiko und einem Wahnsinns-Kredit im Nacken. Inzwischen schreibt man auf Rügen schwarze Zahlen, hat die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg (die Hick zuvor groß gemacht hatte) längst abgehängt. "Laut Umfragen kommen 62 Prozent der Besucher extra wegen Störtebeker auf die Insel", sagt Hick und freut sich, dass er mit seinem Team ein kleines Wirtschaftswunder geschaffen hat: Ralswiek bringt jeden Sommer 300 zusätzliche Arbeitsplätze, bezieht die Fischer und Bauarbeiter, Handwerker und Kinder des Ortes mit ein und hat auch als Gemeinde keine Schulden. Die rund 300 000 Besucher pro Jahr lassen etwa 70 Millionen Euro auf der Insel. Ein großer Teil des Erfolgs mag auch an der klugen Mischung von Kontinuität und Erneuerung liegen. So gibt es Schauspieler, die schon seit Jahren an Bord sind, wie Klaus-Peter Thiele (der Werner Holt der Defa) oder der 79-jährige gebürtige Rumäne Mircea Krishan, der als Mönch so witzig ist, dass er neben Störtebeker Sascha Gluth und Bänkelsänger Wolfgang Lippert Abend für Abend den meisten Beifall einheimst. Bewusst sucht der Intendant auch immer neue Gesichter. Eines davon ist Christel Ortmann vom Anhaltischen Theater Dessau. Nach achtjähriger Pause spielt sie diesen Sommer die Gastwirtin Grete in Ralswiek. Burschikos darf sie sein und unsterblich verliebt in den Piraten Goedeke.

Als Traum bezeichnet sie die Möglichkeit, trotz Festengagements in Dessau auf Rügen 61 Vorstellungen geben zu dürfen, freigestellt zu sein für die Arbeit auf der schönsten Naturbühne, die sie kennt. "Jeden Abend Tausende Zuschauer zu erreichen, die die vielfältige Show erleben möchten, das gibt einem das Gefühl, gebraucht zu werden." Wenn sich gegen 22.30 Uhr der Nachthimmel über den Bodden spannt, schwarz ummantelte Reiter durch Nebel galoppieren, es überall knallt und dröhnt, brennt und qualmt, ist Störtis Abenteuer für heute beendet. Es ist gut ausgegangen, mit der Hoffnung auf Frieden. Die Zuschauer wollen das Happy-End. Entspannt schauen sie das prächtige Feuerwerk. Dann stürmen sie los, zur Jagdschloss-Bahn und der Fahrer wirbt schon für die nächste Fahrt. Morgen, hinauf zum Jagdschloss Granitz.

"Sonne, Sand und Störtebeker", MDR-Dokumentation, ab 19. August, 20.45 Uhr