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Biathlon Biathlon: Der Büchsenmacher

Von FRANK JUNGHÄNEL 12.02.2010, 13:20

Halle/MZ. - Beinahe Tag und Nacht hat er in den letzten Wochen mit den Waffen der Olympiamannschaft verbracht, hat hier gefeilt und dort gefräst, hat optimiert und modifiziert. Und nun, ein paar Tage vor der Abreise ins Vorbereitungslager, kam Kati Wilhelm zu ihm in die Werkstatt in Oberhof und fragte: "Brisi, kannst du mir so eine weiße Blende machen?" Brisi konnte.

Er zog einen Streifen Tape von der Rolle und klebte ihn innen auf die Augenblende von Kati Wilhelms Hightech-Waffe, die vielleicht viertausend Euro kostet, aber eigentlich unbezahlbar ist. Dann schnitt er die Ränder sauber ab. Sandro Brislinger kann alles, selbst, wenn er vom Sinn nicht restlos überzeugt ist.

Hauptfeldwebel Brislinger, fünfunddreißig Jahre alt und offensichtlich eher Gemütsmensch als Soldat, hat es gelernt, mit seinen Athleten umzugehen. Wenn er von ihnen spricht, klingt das fast so, als seien es Patienten. Er unterscheidet sie in Problemfälle, Pflegefälle und Härtefälle, er weiß, mit wem er seine Späße treiben kann und wer ein bisschen empfindlich ist. Als Waffentechniker der Nationalmannschaft ist Sando Brislinger nicht nur dafür verantwortlich, dass die Gewehre am Schießstand funktionieren. Im Grunde ist er auch dafür verantwortlich, dass die Athleten am Schießstand funktionieren. Das Schießen ist zu neunzig Prozent Psychologie. Läuft es gut, ist das mentale Stärke. Läuft es schlecht, liegt es am Gewehr.

Bei Michael Greis, der 2006 in Turin drei olympische Goldmedaillen gewonnen hat, lief es in den ersten Rennen dieses Jahres nicht so gut. "Michi Greis ist ein Spezialfall", sagt Brislinger. "Ich kenne niemanden, der so pedantisch ist; hier muss ein Millimeter weg, da muss ein Millimeter dazu. Er feilt und sägt ständig an seinem Gewehrschaft herum." Vor ein paar Tagen ist Michael Greis extra nochmal aus Ruhpolding herüber nach Oberhof gekommen, um mit Brislinger ein paar Veränderungen zu besprechen. Bis nachts halb zwölf. Brislinger ist 1995 zur Sportfördergruppe der Bundeswehr im thüringischen Oberhof gekommen, direkt nach seiner Lehre als Büchsenmacher. Schon zu Ostzeiten wurden hier die Spitzenkader im Wintersport betreut. Heute ist Oberhof der einzige Bundeswehrstützpunkt allein für Sportler.

Begonnen hat alles 1980 in Lake Placid, als Frank Ullrich aus der DDR Olympiasieger wurde. Danach hat es keine Spiele mehr gegeben, bei denen deutsche Biathleten nicht mindestens einmal Gold geholt haben, Ost oder West, Einzel oder Staffel. Heute ist Frank Ullrich Bundestrainer bei den Männern. An diesem Vormittag trifft er sich mit Sandro Brislinger auf ein Pfund Gehacktes, um letzte Dinge zu bereden. Ullrich ist hager, das war er immer, jetzt wirkt er ausgezehrt. Die Strapazen der Siege sind ihm anzusehen. Nach der Saison wird er die Mannschaft abgeben.

Brislinger, der von sich sagt, er sei ein Alleinunterhalter, bleibt an diesem Tag nicht lange allein. Seine neue Werkstatt, die er sich mit modernen Fräs- und Bohrmaschinen in einer Garage des früheren Armeesportklubs am Rennsteig einrichten konnte, ist so etwas wie eine Klatsch- und Kleiderbörse. Dauernd klingelt es am Tor, das wegen der Waffen und der Munitionsvorräte verschlossen bleiben muss.

Katrin Apel kommt zum Plaudern, Andrea Henkel will eigentlich nur sagen, dass sie müde ist, Mark Kirchner tigert durch die Halle und hofft auf einen Kaffee. Innerhalb von drei Stunden sind Athleten zu Besuch, die insgesamt elf olympische Goldmedaillen im Biathlon gewonnen haben. Es klingelt schon wieder, durch die Milchglasscheibe ist ein roter Haarschopf zu erkennen - Kati Wilhelm. Sie kommt, um ihre Olympiagarderobe zu holen. Katis Gewehr für Vancouver liegt in Einzelteile zerlegt auf der Werkbank. Brislinger wird es einölen, mit einem Spezialfett. Kati Wilhelm kombiniert ein russisches Verschlusssystem, das auch bei extremer Kälte zuverlässig wie eine Kalaschnikow funktioniert, mit einem Lauf aus heimischer Produktion und einem handgeschnitzten Schaft. Für einen solchen Schaft aus türkischem Walnussholz benötigt Sandro Brislinger bis zu hundert Stunden. Jeder Biathlet hat dreißig Paar Ski, aber nur ein Gewehr. Das Verrückte an diesem Sport ist, dass der Organismus zwei Dinge leisten muss, die absolut nicht zusammen passen. Er soll die Muskulatur und den Kreislauf in der Langlaufloipe bis ans Äußerste belasten und am Schießstand sofort in absolute Ruhe verfallen. Je höher der Puls, desto flacher schlägt das Herz, desto ruhiger die Hand. Also müssen die Sportler, die mit einem Puls von etwa 180 Schlägen pro Minute an den Schießstand kommen, ihre Aufgabe so schnell es geht erledigen. Nach dreißig Sekunden ist die Chance verspielt. Dann hämmert das Herz in der Brust.

Sandro Brislinger hat getan, was er kann, er hat die perfekten Waffen gebaut. "Leider kommt jetzt noch der Sportler dazu", sagt er. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass er es auch so meint. Gelernt hat Brislinger unten in Suhl, wo seit sechshundert Jahren Feuerwaffen fabriziert werden. Es ist die einzige Berufsfachschule für dieses Gewerbe in Deutschland. Brislinger war der Beste seines Jahrgangs und als Frank Ullrich für Oberhof einen Techniker suchte, hatten sie ihm Sandro geschickt. Sein Vater war zu Ostzeiten im Suhler Jagdwaffenwerk angestellt. Nach der Wende wurde er vom neuen Eigentümer übernommen, später aber doch entlassen. Heute arbeitet er, ein hoch qualifizierter Techniker, als Maler und Lackierer.

"Traurig", sagt Brislinger, der auch deshalb zur Bundeswehr gegangen ist, weil er dort für sich eine Zukunft sieht. Inzwischen hat er Angebote aus diversen Wintersportländern bekommen. Er könnte eine Menge Geld verdienen. "Wenn ich kein Beamter wäre, wäre ich nicht mehr hier. Aber was macht man nach zwei, drei Jahren im Ausland?" Sandro Brislinger hat in seiner Werkstatt viele aufstrebende Talente gesehen, die für immer Talente geblieben sind. Es wurde schon viel geweint in seiner Nähe. Für ihn ist das ein Vertrauensbeweis. "Zu mir kommen sie mit Geschichten, die sie ihrem Trainer niemals erzählen würden."

So sind Freundschaften entstanden. Für Andrea Henkel hat er mal eine Küche eingebaut, bei dem einen den Dachgepäckträger am Auto montiert, bei dem anderen das Mountainbike repariert. Bei Christoph Stephan, der als jüngste Hoffnung der deutschen Männermannschaft mit nach Vancouver fährt, hat er eine Jagdtrophäe in die Wand gedübelt. Heute liegt Christoph Stephan auf einer alten Wolldecke zu Brislingers Füßen und visiert mit seinem Gewehr die Schrift auf einem Kanister an. Er hat von der weißen Blende gehört, die sich Kati Wilhelm anfertigen ließ. Nun möchte er das auch mal probieren.