Leichtathletik und Boxen Geschlechter-Tests zur WM: Gründe, Probleme und Kritik
Wer bei der WM im Boxen und in der Leichtathletik in der Frauen-Kategorie starten will, muss sich einem Gentest unterziehen. Die neue Maßnahme wird kontrovers diskutiert - und juristisch angefochten.

Liverpool/Tokio - Ein kleiner Pieks in den Arm oder ein schneller Abstrich von der Wangenschleimhaut - und schon ist die neue Regel in der Leichtathletik und im Boxen erfüllt. Natürlich nur, sofern das Ergebnis richtig ist. Aber welches Ergebnis ist bei einem Geschlechter-Test schon „richtig“?
In der höchst sensiblen Gemengelage von sportlicher Chancengleichheit, gesellschaftspolitischer Aufregung und individueller Geschlechtsidentität präsentieren zwei Sportarten zur gleichen Zeit ähnliche Lösungen: Bei den Weltmeisterschaften im Boxen in Liverpool (ab 4. September) und in der Leichtathletik in Tokio (ab 13. September) dürfen nur Sportlerinnen in der Frauen-Kategorie starten, die sich einem sogenannten SRY-Gentest zur Bestimmung des biologischen Geschlechts unterziehen und das Ergebnis „weiblich“ vorweisen.
Beide Sportarten haben diesbezüglich eine Vorgeschichte, der Druck nach einer Reform war groß. Die neue Regelung wird kontrovers diskutiert, auch unter den Athletinnen. Box-Olympiasiegerin Imane Khelif, die in Paris im Zentrum einer heftig geführten Geschlechterdebatte stand, legte beim Internationalen Sportgerichtshof (Cas) Berufung ein. Es gibt zudem Kritik von Menschenrechtsorganisationen. Die Deutsche Presse-Agentur beantwortet die wichtigsten Fragen zu diesem Thema.
Wie läuft so ein Test ab?
Die Sportlerinnen werden auf ein Gen auf dem Y-Chromosom untersucht, das für die Entwicklung männlicher Geschlechtsmerkmale entscheidend ist. Dabei reicht ein Wangenabstrich oder eine Blutabnahme. Davor steht aber ein langes Aufklärungsgespräch. „Sehr viele rechtliche Sachen werden dabei berücksichtigt“, sagte Olympia-Boxerin Maxi Klötzer der Deutschen Presse-Agentur, „weil auch etwas rauskommen kann, womit man vielleicht gar nicht rechnet“.
Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) vereinbarte Kooperationen mit Diagnostik-Laboren, die Test-Kits zur Verfügung stellen und die Analysen der Proben durchführen. Der DLV wird über das Ergebnis der Analyse, die rund zwei Wochen dauert, nicht informiert. World Athletics will die Testresultate stichprobenhaft abfragen. Die Boxerinnen fanden für die Testung eine medizinische Einrichtung in der Nähe von Heidelberg. In manchen Ländern wie Japan wird der von World Boxing geforderte Test gar nicht mehr angeboten.
Wie reagieren die Sportlerinnen?
Sehr unterschiedlich. Weitsprung-Star Malaika Mihambo kritisierte die Maßnahme ebenso wie Diskuswerferin Kristin Pudenz, die von einem „Beigeschmack“ sprach und der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ sagte: „Wir werden uns dem beugen müssen. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig, wenn wir dabei sein wollen.“ Boxerin Klötzer reagierte dagegen „sehr positiv“ auf die Einführung der Tests, „daran ist überhaupt nichts Verwerfliches“.
Khelif sieht das ganz anders. Die Algerierin wollte mit ihrer Berufung vor dem Cas auch erreichen, dass sie ohne Test bei der WM zugelassen wird. Diese Forderung wurde aber abgelehnt.
Wie argumentieren die Verbände?
Es gehe um den „Schutz und die Wahrung der Integrität des Frauensports“, sagte World Athletics-Präsident Sebastian Coe. Bislang wurde in der Leichtathletik in strittigen Einzelfällen der Testosteronwert als Kriterium herangezogen. Fast wortgleich begründet World Boxing die Maßnahme. Bei einer Kampfsportart wie dem Boxen wolle man damit zudem die „Sicherheit aller Teilnehmer“ gewährleisten. DLV-Verbandsarzt Karsten Hollander sprach jedoch von einer „moralisch, ethisch und logistisch“ großen Herausforderung - auch wegen der kurzen Vorlaufzeit bis zur WM.
Was sind die Hintergründe?
Die Debatte bei Olympia um Khelif und Lin Yu-ting aus Taiwan hatte die Verantwortlichen unter Zugzwang gebracht. Beiden waren zuvor von der Box-WM ausgeschlossen worden, weil sie laut des inzwischen vom Internationalen Olympisches Komitees (IOC) suspendierten Verbandes Iba die erforderlichen Teilnahme-Kriterien nicht erfüllt hatten. In der Leichtathletik sorgte der Fall Caster Semenya für Wirbel. Von der dreimaligen Weltmeisterin war verlangt worden, dass sie für Starts eine Hormonbehandlung zur Senkung ihres natürlichen Testosteronspiegels durchführt.
Wo liegen die Probleme?
Eine Kritik vor allem von Menschenrechtsorganisationen lautet, dass durch solche Tests die Privatsphäre verletzt werde. Die bloße Fokussierung auf biologische Merkmale werde zudem der Komplexität der Geschlechtsidentität nicht gerecht.
Laut Sportmediziner Wilhelm Bloch könne der Test zwar das Vorhandensein eines SRY-Gens und damit die Voraussetzung für die Entwicklung zum Mann feststellen. Doch die Funktionsfähigkeit des Gens werde nicht getestet. „Daher kann der Test Intersexualität nur bedingt nachweisen“, erklärte der Professor der Deutschen Sporthochschule Köln.
Sind Geschlechtstests im Sport neu?
Nein. Einfache körperliche Untersuchungen wurden schon zur Leichtathletik-EM 1966 in Budapest eingeführt, weil damals vor allem Athletinnen aus den Staaten des damaligen Ostblocks unter Verdacht standen, Männer zu sein. Zu den Olympischen Spielen 1968 führte das IOC Abstrich-Tests zur Bestimmung der Geschlechts-Chromosomen ein. Nach Problemen und Widerständen stellte das IOC die generelle Testung 1999 ein. Vor der Frauenfußball-WM 2015 mussten die Spielerinnen jeweils ein ärztliches Attest vorweisen, nachdem es beim Team aus Äquatorialguinea Auffälligkeiten gegeben hatte.