Klinsmann und Löw Klinsmann und Löw: Der Revolutionär und sein Vollender

Recife - Es gibt diese Menschen, die nur sehr langsam zu altern scheinen. Bei Jürgen Klinsmann ist das so, bei Joachim Löw sogar noch ein bisschen mehr. Schaut man auf Bilder im Berliner Olympiastadion aus dem Jahr 2006, als sie in eng taillierten Hemden die Baumeister des deutschen Sommermärchens gaben, dann findet man in den Augen des Bundestrainers Klinsmann, damals 41, dasselbe Jungenhafte, Verschmitzte wie 2014 beim US-Headcoach Klinsmann, 49. Und beim damaligen Assistenten Löw, seinerzeit 46, saß die Frisur ebenso zuverlässig und haargenau im selben Farbton wie 2014 beim Cheftrainer Löw, heute 54.
Acht Jahre sind vergangen und es ist viel mehr passiert, als die Gesichter der zwei Männer verraten. Nun treffen die damals zu Freunden gewordenen Trainer im brasilianischen Küstenort Recife als Kontrahenten im dritten und entscheidenden WM-Vorrundenspiel in der Gruppe G mit Deutschland und den USA (ZDF, 18 Uhr) aufeinander.
Damals, im Sommer 2004, als der deutsche Fußball platt wie eine Flunder am Boden lag und man Klinsmann zum Bundestrainer bestimmte, weil niemand anders konnte oder wollte, hat er sich Löw zur Seite geholt. Klinsmann wusste um seine fußballfachlichen Defizite. Er hatte den Trainerschein zuvor in einem Schnellkurs für verdiente Nationalspieler erworben. Ein Geschenk des DFB für gute Leistungen auf dem Fußballfeld, mehr nicht.
Löw war mehr als ein Assistent
Joachim Löw war für Klinsmann daher von Anfang an viel mehr als ein Assistent. Löw führte das Wort auf dem Übungsplatz und heckte die Taktik aus. Klinsmann verstand sich als Supervisor und Ideengeber. Dazu Oliver Bierhoff, der alte Kumpan, der als Experte für Marketing und Sponsoring den Sportsleuten den Rücken freihielt. Diese drei gemeinsam haben den deutschen Fußball, der miefig roch, von rechts nach links gedreht und einem Vollwaschgang mitsamt Vorwäsche und Schleudern unterzogen. Obwohl der Fußball gar nicht so gründlich gewaschen und geschleudert werden wollte.
Bierhoff erinnert sich noch gut an einen Besuch im Ligaausschuss: „Wir saßen da, trugen unsere Ideen vor und wurden angeschrien: Ihr macht mit eurem Fitnessquatsch den deutschen Fußball kaputt.“ Klinsmann hatte kräftige Kerle mir kurz geschorenen Haaren und finsteren Blicken aus seinem ersten Wohnsitz USA mitgebracht, die den Spielern komische Übungen mit Gummibändern beibrachten. Und dem Coach waren Widerstände nicht einmal unrecht. „Er ist ein Mensch, der glaubt, dass man Konflikte mitunter sogar schaffen muss, um Energie freizusetzen“, sagt Bierhoff.
Klinsmann will beide Hymnen singen
Vor der Weltmeisterschaft 2006 sorgte der amerikanisierte Deutsche, der heute Abend beide Nationalhymnen mit der ihm eigenen Inbrunst singen will, dafür, dass das vom DFB längst gebuchte WM-Quartier in Bergisch Gladbach teuer storniert wurde. Klinsmann wollte den Pulsschlag der Hauptstadt spüren. Der Verband beugte sich freudlos dem Willen des Reformators und buchte ins Schlosshotel im Grunewald um.
So denkt Klinsmann. In Brasilien wohnt das US-Team in São Paulo, wo Verkehrsinfarkte zur täglichen Gewohnheit gehören.
Joachim Löw hat von Manager Oliver Bierhoff ein Basiscamp in Santo André buchen lassen, wo die Fahrzeugdichte geringer ist als die der Hunde, die auf dem Sandweg im Ort dösen. So denkt Löw.
Klinsmann hat heute in Huntington Beach in Kalifornien mit seiner Frau Debbie und den Teenagern Jonathan und Laila ebenso ein Zuhause gefunden wie im US-Soccer, wo er seine Sache seit drei Jahren konsequent, aber weniger kontrovers verfolgt. Nach zwischenzeitlich scharfem Gegenwind gilt er längst als allseits akzeptierter Fachmann. In Deutschland war Klinsmann 2009 bei seiner zweiten Rückkehr kolossal gescheitert. Womöglich war er noch nicht reif für den FC Bayern München, wo Uli Hoeneß angesichts des umfangreichen Mitarbeiterstabs des Trainers bald lästerte: „Wenn das hier so weitergeht, brauchen wir einen Gelenkbus.“ Oliver Bierhoff sagt: „Ich glaube, dass Jürgen inzwischen ein besserer Trainer geworden ist und weniger Motivator.“
DFB-Präsident Wolfgang Niersbach empfängt Reporter in einem Hotel auf der anderen Seite des Flusses, eine Viertelstunde per Fähre und 25 Minuten mit dem Auto vom Basiscamp der Nationalmannschaft entfernt. Zum Bundestrainer ins Campo Bahia dagegen darf Niersbach nur nach Anmeldung.
Auch das ist eine Hinterlassenschaft Klinsmanns. Wer nicht unmittelbar zum Team hinter dem Team gehörte, wurde weggeschickt. Auch die Mahlzeiten, bei denen zuvor wie selbstverständlich auch führende Funktionäre am Buffet gestanden hatten, wurden nur noch im Mannschaftskreis eingenommen. Das ging anfangs so weit, dass Pressechef und Stollenschuhwart beim ersten Auswärtsspiel im September 2004 in Österreich nicht wussten, wo sie ihr Abendessen bekommen.
Niersbach, der damals nach dem frühen EM-Aus in der Vorrunde gern weiter mit dem umgänglichen, freiwillig vom Amt des Bundestrainers zurückgetretenen Rudi Völler zusammengearbeitet hätte, ist dennoch voll des Lobes für Klinsmann: „Jürgen hat viele Spuren hinterlassen. Die ganze Professionalisierung geht auf ihn zurück.“ Das gelte auch für die anfangs sehr skeptische Bundesliga. „Schauen Sie auf die Trainingsplätze. Jürgen hat Dinge angestoßen, die heute selbstverständlich sind.“ Intensiveres Scouting, psychologische Betreuung, individuelleres Training, Delegieren von Aufgaben an Spezialisten.
„Klinsmann und Löw sind Glücksfälle”
Arne Friedrich sitzt im Schatten des Medienhotels an einem Tisch am Swimmingpool und saugt an einer Wasserflasche. Friedrich gehörte zum WM-Kader 2006 unter Klinsmann und zum Aufgebot 2010 unter Löw und beendete seine Laufbahn in der amerikanischen Major League Soccer in Chicago. Jetzt ist der ehemalige Verteidiger Fachmann fürs chinesische Fernsehen. „In meinen Augen sind sowohl Klinsmann als auch Löw große Glücksfälle für den deutschen Fußball. Die Entwicklung, die Klinsmann in Gang gesetzt hat, wurde von Löw vollendet“, analysiert Friedrich.
Klinsmann sei „ein Innovator, der revolutionäre Dinge leistete, indem er alles aufgebrochen hat. Er kann seine Spieler unglaublich motivieren und sieht ein großes Bild“. Löw habe Klinsmann zunächst „perfekt ergänzt“ und sei „mittlerweile einer der besten Trainer der Welt“. Denn er ließe den Spielern Freiräume, übertrage Verantwortung, wisse aber auch „genau, wann er die Zügel anziehen muss“.
Deutschland erreicht das Achtelfinale
– bei Sieg oder Remis gegen USA.
– bei einer Niederlage gegen die USA, wenn Portugal und Ghana unentschieden spielen
– bei einer Niederlage gegen die USA und einem Sieg von Ghana oder Portugal, wenn die Tordifferenz der DFB-Elf besser ist.
Die USA kommen ins Achtelfinale
– bei einem Sieg oder einem Remis gegen Deutschland.
– bei einer Niederlage gegen Deutschland, wenn Portugal und Ghana unentschieden spielen.
– bei einer Niederlage gegen Deutschland und einem Sieg von Ghana oder Portugal, wenn danach die Tordifferenz der US-Auswahl besser ist.
Ghana erreicht das Achtelfinale
– bei einem Sieg gegen Portugal, wenn Deutschland und die USA nicht Remis spielen und die Tordifferenz besser ist als die des Verlierers des Parallelduells.
Portugal kommt ins Achtelfinale
– bei einem Sieg gegen Ghana, wenn Deutschland und die USA nicht Remis spielen und die Tordifferenz besser ist als die des Verlierers im Parallel-Duell.
Der deutsche Kapitän Philipp Lahm mag dem Wiedersehen mit seinem ehemaligen Vorgesetzten keine großartige Bedeutung beimessen. Das sei „ein Thema für die Medien, nicht für die Spieler“, beschied er dieser Tage kühl. Man habe mit Klinsmann „eine gute Zeit zusammen gehabt, er hat viel Schwung reingebracht. Aber das ist schon ein paar Jahre her“. Die missglückte Episode bei den Bayern erwähnt Lahm lieber nicht. Er will öffentlich nichts Schlechtes über den US-Coach sagen. Schon gar nicht zu einem derart sensiblen Zeitpunkt unmittelbar vor dem Wiedersehen.
Bei ihm hört es sich so an, als sei der eigentliche Glücksfall für den deutschen Fußball nicht Klinsmann, sondern Löw. Und Klinsmann muss das ähnlich gesehen haben. Nach der Jubelfeier am Brandenburger Tor Anfang Juli 2006 saßen die beiden Männer mit ihren Frauen in einem Nobelhotel im Schwarzwald zusammen. Klinsmann berichtete Löw das Erwartete, das DFB-Projekt sei für ihn beendet. Und er sagte: „Jogi, du bist jetzt der Richtige für den Job.“ Löw zierte sich erst ein wenig. Dann willigte er ein.
Voraussichtliche Mannschaftsaufstellungen:
USA: 1 Howard (FC Everton/35 Jahre/102 Länderspiele) - 23 Johnson (1899 Hoffenheim/26/26), 5 Besler (Sporting Kansas City/27/19), 20 Cameron (Stoke City/28/29), 7 Beasley (Puebla/32/118) - 13 Jones (Besiktas Istanbul/32/46), 15 Beckerman (Real Salt Lake/32/39) - 19 Zusi (Sporting Kansas City/27/25), 11 Bedoya (FC Nantes/27/30), 4 Bradley (Toronto FC/26/87) - 8 Dempsey (Seattle Sounders/31/106)
Deutschland: 1 Neuer (Bayern München/28/47) - 20 Boateng (Bayern München/25/41), 17 Mertesacker (FC Arsenal/29/100), 5 Hummels (Borussia Dortmund/25/32), 4 Höwedes (FC Schalke 04/26/23) - 7 Schweinsteiger (Bayern München/29/103), 16 Lahm (Bayern München/30/108), 18 Kroos (Bayern München/24/46) - 8 Özil (FC Arsenal/25/57), 13 Müller (Bayern München/24/51), 19 Götze (Bayern München/22/31)
Schiedsrichter: Irmatov (Usbekistan)
