Tote Bergsteiger Tote Bergsteiger: Das Wunder in den Alpen blieb aus

Genf/MZ - Das Wetter auf der Weissmieshütte ist gut, als die sechsköpfige Wandergruppe aus Deutschland sich am Dienstagmorgen zum Gipfelsturm bereit macht. „Es war kein leuchtend blauer Himmel, aber recht gutes Wetter, man konnte die Tour gut machen“, erinnert sich Hüttenwart Arthur Antamatten.
Auf 2 726 Metern liegt die Hütte, in der jetzt in der Hochsaison bis zu 135 Bergsteiger übernachten können. Die Strecke zum Gipfel des Lagginhorns und zurück ist eine Tagestour. „Man muss 1 300 Höhenmeter zurücklegen, dafür braucht man viereinhalb bis fünf Stunden“, so Antamatten. Die Deutschen hätten einen professionellen Eindruck auf ihn gemacht, sagt Antamatten. „Sie haben erzählt, sie seien schon seit einigen Jahren in den Bergen rund ums Saas-Tal unterwegs.“
Vor sechs Uhr früh machen sich die Deutschen, die aus Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Berlin stammen, auf den Weg: Ein Vater mit seinem 20-jährigen Sohn und seiner 14-jährigen Tochter, ein 44-jähriger Freund mit seinem Sohn (17) und ein 21-jähriger Kollege der Kinder. Die Gruppe kommt auf der üblichen Route nicht besonders schnell, aber offenbar stetig voran. Erst hundert Höhenmeter unter dem Gipfel gibt es ein Problem: Dem Vater der beiden Geschwister wird übel, er kann nicht weiter. Das rettet ihm das Leben. Die restlichen fünf stehen am Mittag in 4 010 Metern Höhe auf dem Gipfel. Beim Abstieg ereignet sich das Unglück - nicht weit vom zurückgelassenen Vater entfernt, der entsetzt zusehen muss, wie seine Kinder und Freunde in die Tiefe stürzen. „Es ist sehr steil dort oben, die steilste Stelle am Berg“, weiß Arthur Antamatten. „Mit Steigeisen bei guten Bedingungen ist das machbar, aber man muss immer aufpassen.“ Alpinisten bezeichnen die Route als wenig schwierig. Bergführer bieten den Aufstieg auch für absolute Anfänger an.
Der verbliebene Alpinist reagiert umgehend: Er ruft auf der Hütte an, die ihrerseits die Bergrettung alarmiert. Dort geht der Notruf um 12.55 Uhr ein, sofort steigt ein Rettungshubschrauber der Air Zermatt in die Luft. Doch die Retter können nur noch die Leichen bergen. „Einen Sturz vierhundert Meter am Berg in die Tiefe, wo man ständig gegen Steine und Felswände schlägt, kann man kaum überleben“, weiß der Rettungschef der Air Zermatt, Bruno Jelk. „Mit meiner dreißigjährigen Erfahrung als Bergretter muss ich sagen: Nur wenn sehr viel Schnee den Fall bremst, hätte man eine kleine Überlebenschance. Ich kenne das Lagginhorn sehr gut. An der Stelle einen Fall zu überleben, wäre ein echtes Wunder gewesen.“
Was die Ursache des Unfalls war, ist noch unklar. Rolf Trachsel, der die Bergung am Lagginhorn geleitet hat, sagt nach dem Einsatz, der Schnee sei wegen Regens am Mittag sehr weich gewesen. Womöglich war es rutschig, lag Eis unter der weichen Schneedecke. „Ich gehe von einem Mitreißunfall aus“, so Trachsels Vermutung. Das würde bedeuten: die fünf Alpinisten klettern gemeinsam an einem Seil - einer verliert den Halt und rutscht aus, der nächste wird mitgerissen und schließlich stürzt die gesamte Gruppe hinab. Als Retter vor Ort sollte Trachsel wissen, ob die Gruppe angeseilt war. Trotzdem ist die Polizei unsicher. Der Sprecher der Walliser Kantonspolizei, Renato Kalbermatten, meinte, die Gruppe sei vermutlich nicht angeseilt gewesen. „Dann käme als Absturzursache nur ein Schneerutsch in Frage, sonst wären nicht alle fünf zugleich abgestürzt“, sagt Jelk. Für undenkbar hält er das nicht. „Wir hatten in der Region zwei Tage lang sehr schlechtes Wetter und viel Neuschnee, da ist das möglich.“
Während die Kantonspolizei weitere Untersuchungen ankündigt, geht der Ansturm auf das Lagginhorn weiter. „Wir haben wunderschönes Wetter, die Hütte war voll - und am Morgen sind die Bergsteiger wie immer Richtung Gipfel aufgebrochen“, sagt Hüttenwart Arthur Antamatten. „Es ist ein sehr tragischer Unfall, aber das Leben muss ja weitergehen.“ Der bislang schwerste Bergunfall in der Schweiz in diesem Jahr ist nicht der erste am Lagginhorn: Im vergangenen Sommer stürzte ein Deutscher in den Tod, im Jahr zuvor ebenso, 2009 zwei Italiener.