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Stephanie-Prozess Stephanie-Prozess: Kümmert sich die Justiz mehr um die Täter?

09.11.2006, 10:09
Der Angeklagte im Dresdener Stephanie-Prozess verlässt am frühen Donnerstagmorgen (09.11.2006) in Dresden in einen Hubsteiger das Dach der Justizvollzugsanstalt. (Foto: dpa)
Der Angeklagte im Dresdener Stephanie-Prozess verlässt am frühen Donnerstagmorgen (09.11.2006) in Dresden in einen Hubsteiger das Dach der Justizvollzugsanstalt. (Foto: dpa) dpa

Dresden/dpa. - Helmut Rüster, Sprecher der Opferschutzorganisation Weißer Ring, hat ausgesprochen, was die Mehrheit der Deutschen von der Kletteraktion des Sexualstraftäters Mario M. und der anschließenden Prozessverschiebung hält: "Die Justiz achtet mehr auf die Rechte des Täters als auf die des Opfers", schimpfte er am Donnerstag und ergänzte: «So ein Mensch hat keinAnrecht auf Privilegien.»

Mario M. ist, wie man in dieser Phase des Verfahrens sagen muss,ein mutmaßlicher Verbrecher, obwohl er seine Tat inzwischen zugegeben hat. Fünf Wochen lang hat er Anfang des Jahres die damals 13-jährige Stephanie in Dresden gedemütigt, gequält und misshandelt. Sechs Beamte mussten den kräftigen 36-Jährigen niederringen, als er im Gerichtssaal plötzlich aufsprang, als wolle er sich auf die Staatsanwältin stürzen. Damit nicht genug: Nun hat er die Justiz vorgeführt, indem er eine Nacht auf dem Gefängnisdach verbracht und - weil er danach verständlicherweise müde war - einen Aufschub der Verhandlung auf den 21. November durchgesetzt hat.

Hätte das Gericht ihn - müde oder nicht - kurzerhand auf dieAnklagebank zwingen und die Verhandlung durchziehen müssen? DasLandgericht Dresden hatte wohl kaum die Bequemlichkeit desAngeklagten im Sinn, als es den Termin verschoben hat: Richter sind äußerst vorsichtig, wenn ein Angeklagter der Verhandlung geistig nicht mehr folgen kann. Verhandlungsunfähigkeit ist keine läppische Formalie, sondern ein Revisionsgrund, der den Bundesgerichtshof zur Aufhebung eines Urteils zwingt. Der eherne Grundsatz lautet, dass der bis zu seiner Verurteilung als unschuldig geltende Angeklagte imProzess anwesend sein muss - körperlich wie geistig -, damit er sichgegen die Vorwürfe verteidigen kann.

Ausnahmen von diesem Grundsatz werden - da sind die Vorwürfe desWeißen Rings unberechtigt - gerade zum Schutz der Opfer gemacht. Ihre Rechte sind, besonders bei Sexualstraftaten, in den vergangenen Jahren nachhaltig gestärkt worden. Dass der Angeklagte während der Aussage des Opfers aus dem Gerichtssaal entfernt wird, ist mittlerweile fast die Regel, jedenfalls dann, wenn die Zeugen jünger als 16 Jahre sind. Wenn Stephanie aussagen wird, muss sie also nicht fürchten, ihrem brutalen Peiniger ins Gesicht sehen zu müssen. Auch Videovernehmungen aus einem anderen Raum und der Ausschluss der Öffentlichkeit gehören längst zum Repertoire des Opferschutzes.

Einen Prozess komplett ohne den Angeklagten zu Ende zu führen, ist in Deutschland - anders als etwa in Italien - aber nur in extremen Ausnahmefällen zulässig. Zwar sind in Zeiten der «Roten Armee Fraktion», als die Angeklagten durch Hungerstreiks und Störaktionen Prozesse zum Platzen bringen wollten, entsprechende Paragrafen ins Verfahrensrecht eingebaut worden. Macht sich der Angeklagte gezielt selbst verhandlungsunfähig, dann kann im Notfall auch ohne ihn weiterverhandelt werden - umso leichter, wenn er, wie hier, bereits vernommen worden ist.

Einen solchen Rauswurf meiden die Richter allerdings wie derTeufel das Weihwasser - weil dort tausend Fallstricke fürsRevisionsverfahren versteckt sind. Denn sobald der Angeklagtewiederhergestellt ist, muss man ihn in den Prozess zurückholen und über die bisherigen Ergebnisse informieren: Briefe müssen nochmals verlesen, Fotos und andere wichtige Beweisstücke nochmals gezeigt werden - und jedes Versäumnis kann beim Bundesgerichtshof die Aufhebung des Urteils zur Folge haben. Wird ein Angeklagter des Saales verwiesen, dann freut sich vor allem einer: sein Verteidiger.

Mario M., der Angeklagte im Dresdener Stephanie-Prozess, wird am Donnerstag (09.11.2006) in Dresden von einem Sondereinsatzkommando der Polizei nach dem kurzen zweiten Prozess-Termin aus dem Landgericht gebracht. (Foto: dpa)
Mario M., der Angeklagte im Dresdener Stephanie-Prozess, wird am Donnerstag (09.11.2006) in Dresden von einem Sondereinsatzkommando der Polizei nach dem kurzen zweiten Prozess-Termin aus dem Landgericht gebracht. (Foto: dpa)
dpa-Zentralbild
Auf dem Gefängnisdach steht der Angeklagte im Dresdner Stephanie-Prozess am Mittwoch (08.11.2006) in Dresden und unterhält sich mit zwei Personen auf einem Hubsteiger. (Foto: dpa)
Auf dem Gefängnisdach steht der Angeklagte im Dresdner Stephanie-Prozess am Mittwoch (08.11.2006) in Dresden und unterhält sich mit zwei Personen auf einem Hubsteiger. (Foto: dpa)
dpa