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Sprache Sprache: Experte erforscht Kiez-Jargon auf Reeperbahn

05.01.2004, 08:40
Eine Mitfahrerin entbößt ihre Brust, während der Fahrer eines Harley-Davidson-Motorrades über die zum Teil extra abgesperrte Reeperbahn in Hamburg während einer dreitägigen Party zum 100-jährigen Bestehen des amerikanischen Motorradbauers im Juli 2003 rollt. (Archivfoto: dpa)
Eine Mitfahrerin entbößt ihre Brust, während der Fahrer eines Harley-Davidson-Motorrades über die zum Teil extra abgesperrte Reeperbahn in Hamburg während einer dreitägigen Party zum 100-jährigen Bestehen des amerikanischen Motorradbauers im Juli 2003 rollt. (Archivfoto: dpa) dpa

Münster/Hamburg/dpa. - Die Zeiten sind längst vorbei, als auf St. Paulis Reeperbahn in Hamburg noch «dänische Küsse» ausgeteilt wurden und «Grönlandschwalben» gleich scharenweise flogen. Die Sprache der alten Kiezer - der Zuhälter, Prostituierten und Türsteher - ist fast ausgestorben. Der Münstersche Sprachwissenschaftler Klaus Siewert hat versucht, den «Nachtjargon» für die Zukunft zu retten. Mit Hilfe der ehemaligen und mittlerweile ausgestiegenen Kiez-Größe Stefan Hentschel hat Siewert in seinem neuen 232 Seiten starken Buch «Hamburgs Nachtjargon - Die Sprache auf dem Kiez in St. Pauli» einen etwa 1000 Begriffe umfassenden Wortschatz zusammengetragen.

«Die Szene auf St. Pauli ist längst nicht mehr in deutscher Hand», sagt Siewert. Wer heute etwas zu verheimlichen habe, benutze einfach seine Heimatsprache. Der Nachtjargon, vermutlich so betagt wie die Prostitution selbst, sei dagegen entstanden, um unter Deutschsprachigen Außenstehende von wichtigen Informationen fernzuhalten. Befahl etwa ein Zuhälter seiner Dirne, bei einem Freier «nachzukobern», so sollte die Dame für ihre Liebesdienste mehr Geld verlangen, als ursprünglich ausgemacht. War von einer «Tille» die Rede, meinte man die Hure.

«Viele Begriffe sind aus anderen Geheimsprachen eingeflossen, etwa aus dem Rotwelsch oder der Masematte», sagt der Münsteraner Wissenschaftler, der auch Präsident der Internationalen Gesellschaft für Sondersprachenforschung ist und sich seit 1988 dem Thema Geheimsprachen widmet. Auch aus dem Jüdisch-Deutschen und dem Niederdeutschen haben die Kiezgrößen ihre geheimen Wortschöpfungen entlehnt. Andere kommen aus der Standardsprache und wurden umgedeutet oder bekamen einen völlig neuen Inhalt. Für jeden Kiezer war lange Zeit klar, dass ein «dänischer Kuss» eine herkömmliche Kopfnuss ist und dass sich hinter der scheinbar exotischen «Grönlandschwalbe» eine profane Ohrfeige versteckt.

Dass ein «Matratzen-Solist» auf dem Kiez für einen Junggesellen steht, mag sich mancher St.-Pauli-Anfänger vielleicht noch gedacht haben. Doch wenn der Eingeweihte in der Kiez-Bar einen «Oberförster» bestellte und einen «Jägermeister» bekam, war das Staunen sicher größer. Wurde der Neuling dann gar noch zum «Hühnerstrip» geschickt, war es aus mit der Verständigung. Nicht zur Auszieh-Show sollte er gehen, sondern zum Hähnchengrill.

Siewert musste lange suchen, ehe er auf St. Pauli noch alte Kiezer antraf, die ihm etwas zu der Geheimsprache des Nachtjargons sagen konnten. «Der Zugang ist sehr schwer», sagt der Wissenschaftler mit einer Vorliebe für die Stadt Hamburg. Niedergeschriebenes gibt es nur wenig. «Kaum jemand aus der Szene hat Interesse, darüber zu reden.» Kein Wunder, beschreibt die Sprache doch vor allem die rauen Lebenswirklichkeiten auf dem Kiez: Prostitution, Gewalt, Drogen und Polizei sind die Hauptthemen, für die teils verharmlosende, manchmal übertriebene Umschreibungen gefunden wurden.

Vieles von dem, was einst Zuhälter und Barfrauen, Türsteher und Dirnen in langen Nächten ersannen, ist inzwischen auch in die herkömmliche Umgangssprache eingegangen. Der «AOK-Chopper» (Rollstuhl) ist nach Auffassung Siewerts ursprünglich genauso originärer Nachtjargon wie der Begriff «Asche» für Geld, die man «verbraten», also ausgeben kann. Diejenigen Begriffe, die es nicht bis über die Alster geschafft haben, bleiben einigen alternden Kiez- Brüdern vorbehalten. «Es sind eher 20 als 200», zitiert Siewert einen Szene-Insider, die den Nachtjargon noch heute sprechen.