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Aufarbeitung von Justizfehlern Missbrauchslügen ohne Ende und viele traumatisierte Menschen

Eine junge Frau erhebt Missbrauchsvorwürfe gegen Menschen aus ihrem Umfeld. Es gibt Urteile mit Gefängnisstrafen. Mittlerweile ist von Lügen und einem Justizirrtum die Rede. Wie konnte das passieren?

Von Christian Brahmann, dpa 29.09.2025, 17:27
Mehrere Prozesse um Missbrauchsvorwürfe wurden am Landgericht Braunschweig verhandelt. (Symbolbild)
Mehrere Prozesse um Missbrauchsvorwürfe wurden am Landgericht Braunschweig verhandelt. (Symbolbild) Moritz Frankenberg/dpa

Goslar/Braunschweig - Wegen falscher Missbrauchsvorwürfe sitzt ein Paar aus Niedersachsen 684 Tage unschuldig in Haft. Eine junge Frau bleibt trotz größter Zweifel an ihrem Geständnis weiter im Gefängnis. Basiert beides allein auf den Lügen der Tochter und Ex-Partnerin? Die junge Frau aus Goslar steht mit ihrem Konstrukt aus Anschuldigungen gegen unzählige Menschen mittlerweile bundesweit im Fokus. Wie kam es dazu?

Worum geht es in diesem Komplex? 

In die Öffentlichkeit kam der Fall erstmals im Juni 2022. Am Landgericht Braunschweig war damals eine 28-jährige Frau angeklagt, weil sie ihre frühere Freundin mehrmals schwer misshandelt haben soll. Sie soll außerdem versucht haben, ihre Ex-Partnerin mit einer Weinflasche zu erschlagen.

Laut damaliger Anklage hatten sich die beiden Frauen kurz vor den vorgeworfenen Taten in einer Psychiatrie im Landkreis Goslar kennengelernt, in der sie beide behandelt wurden. Sie gingen eine Liebesbeziehung ein, in der es aber schnell zu Streitereien kam. Es soll zu schweren Misshandlungen, Todesdrohungen und dem versuchten Totschlag gekommen sein. 

Im Juli 2022 wurde die 28-Jährige aus Salzgitter im Wesentlichen aufgrund ihres Geständnisses zu mehr als sechs Jahren ins Gefängnis verurteilt. Mit der Gesamtstrafe für 13 erwiesene Taten hielt sich der Richter an eine Verständigung, die der Angeklagten bei einem umfassenden und glaubwürdigen Geständnis ein Strafrahmen von etwa sechs Jahren zusicherte. 

Die Verurteilte sitzt bis heute im Gefängnis. 

Wie ging es nach dem ersten Urteil weiter? 

Nach diesem ersten Prozess rückten schwere Missbrauchsvorwürfe des vermeintlichen Opfers gegen die eigene Mutter und den Stiefvater in den Fokus. Das Paar aus Bad Harzburg wurde nur wenige Tage nach dem ersten Urteil festgenommen.

 Im folgenden Prozess verurteilte dieselbe Strafkammer wie im ersten Fall die Mutter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13,5 Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung. Der Partner bekam neun Jahre und sechs Monate Haft. 

Im Urteil vom Juni 2023 sah es das Gericht damals als erwiesen an, dass sich die Frau in 18 Fällen schuldig gemacht habe - darunter mehrfache, teilweise gemeinschaftliche Vergewaltigung und gefährliche Körperverletzung. Der Stiefvater wurde Ende Juni in sechs Fällen verurteilt, darunter ebenfalls wegen mehrfacher gemeinschaftlicher Vergewaltigung. 

Woher kamen Zweifel und die Wende? 

Fast ein Jahr nach diesem zweiten Urteil hob der Bundesgerichtshof (BGH) den Schuldspruch auf. Die Beweiswürdigung halte einer Nachprüfung nicht stand, hieß es zur Begründung. Wiederum nur wenige Wochen später hob das Landgericht die Haftbefehle gegen das Paar auf, weil sich ein dringender Tatverdacht nicht mehr feststellen ließ. 

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war auch öffentlich klar, dass es starke Zweifel an der Glaubwürdigkeit des vermeintlichen Opfers aus beiden Prozess gab. Eine andere Strafkammer in Braunschweig rollte den Prozess neu auf und kam im September 2024 zu der Überzeugung, dass „die angeklagten Taten nicht stattgefunden haben“. 

Rund um diesen zweiten Prozess wurden die immer Zweifel größer. Ein Gutachter sprach von einem „eher geringen Wahrscheinlichkeitsgrad für einen realitätsbasierten Hintergrund“ für die Schilderungen des vermeintlichen Opfers. Die neue Richterin betonte, dass es sich um „erwiesene Unschuld“ und daher um einen „Freispruch erster Klasse“ handele.

Ein Urteil, das bei den Angeklagten nach 684 Tagen in Haft pure Erleichterung auslöste. Zeitgleich stand aber die Frage im Raum, wie es zu einem derart großen Justizirrtum kommen konnte.

Ist der Fall wirklich so ungewöhnlich?

Ja. Bundesweit haben Medien die „Justizkatastrophe“ aus Niedersachsen, bei der sich ein „Horror-Missbrauch“ als „Schwindel und Fake“ entpuppte aufgegriffen. Im Zentrum steht die Frage, wie eine junge Frau aus Goslar so viele Menschen beschuldigten konnte und ihre Eltern und eine frühere Freundin damit sogar ins Gefängnis brachte. Wie schaffte die Frau es, Gutachter, Behörden und die Justiz über so einen langen Zeitraum zu täuschen? 

Der Fall um die Missbrauchslügen hat längst auch die Landespolitik erreicht: Das Justizministerium hat den Rechtsausschuss des Landtags über die Lage unterrichtet. Allerdings – wegen der Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Beteiligten - in nicht-öffentlicher Sitzung, wie eine Ministeriumssprecherin sagte. 

Wie geht es nun weiter? 

Der Freispruch für die Eltern war schnell rechtskräftig, weil keine Rechtsmittel mehr dagegen eingelegt wurden. „Für die Zeit im Gefängnis werden die beiden entschädigt“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig auf Anfrage. Die weiteren Ermittlungsverfahren aufgrund der Anschuldigungen gegen viele weitere Menschen dürften ohne Folgen bleiben. 

Spätestens mit dem Freispruch für die Eltern stand auch ein dickes Fragezeichen hinter dem ersten Urteil gegen die frühere Partnerin der Tochter. Sie sitzt weiterhin in einem niedersächsischen Gefängnis. In diesem Tagen wird aber deutlich, dass ein Wiederaufnahmeverfahren in ihrem Fall gar nicht so eindeutig ist, wie vielleicht erwartet. 

In der vergangenen Woche hat das mittlerweile zuständige Landgericht Göttingen den Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft als unzulässig zurückgewiesen. Der Antrag genüge den formellen Voraussetzungen nicht. Es könne nicht entnommen werden, ob Gründe vorliegen, die zu einem Freispruch oder einer milderen Bestrafung führen könnten, teilte das Gericht mit. 

Ob die Staatsanwaltschaft gegen diese Entscheidung vorgeht, war zunächst noch unklar. Über den Wiederaufnahmeantrag des Verteidigers der Verurteilten, Friedrich Fülscher, hat das Göttinger Gericht noch nicht entschieden. Der Anwalt sagte, dass sich dieses Verfahren mehr und mehr zu einem der „größten Justizirrtümer der Nachkriegszeit“ entwickele. 

Gegen das vermeintliche Opfer werde nach mehreren Strafanzeigen wegen falscher Verdächtigungen ermittelt, teilte die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit. Bisher gebe es aber keine Anklage gegen die Frau aus Goslar.

In ihrer Begründung des Freispruchs für die Eltern fasste die Richterin zusammen: „Alle Vorwürfe gegen alle Personen sind falsch.“ Ob es um Aufmerksamkeit, Geltungsbedürfnis oder doch Scheinerinnerungen gehe, sei offen. Klar ist ihr zufolge aber, dass weitere Klärung dringend angebracht ist. Das Geschehene habe viele traumatisierte Menschen hinterlassen.