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Gerichtsmedizin Gerichtsmedizin: Das zweite Gesicht

Von MARLENE KÖHLER 28.01.2012, 15:39

Halle (Saale)/MZ. - Der Schädel wird ihr aus der Gerichtsmedizin gebracht. Ein Toten-Schädel. Keiner weiß, welcher Mensch das gewesen ist. Unentdeckt lag er über Jahre in einem Wald. Als er gefunden wurde, hatte er kein Gesicht mehr. Steffi Burrath ist die letzte Instanz. Sie bekommt den Schädel sehr spät, erst wenn nach allen Regeln der Kunst ohne Ergebnis ermittelt wurde. Die Spezialistin vom Landeskriminalamt (LKA) Magdeburg soll herausfinden, wie der Tote ausgesehen hat; sie soll ein Phantombild von ihm zeichnen, das zur Öffentlichkeitsfahndung taugt. Doch wie geht das, wenn nichts mehr da ist, außer, mit "Glück", ein paar Haar- oder Bartreste vielleicht? Wenn Fotos vom Fundort der Leiche nur spärliche Hinweise geben, etwa zu Geschlecht, Alter oder Nationalität?

Steffi Burrath darf ihre Vorgehensweise nicht am echten Toten-Schädel erklären; die kommen nur auf den Tisch, solange sie an ihnen arbeitet. Da gibt es ganz strenge Vorschriften. Außerdem müffelt es dann immer etwas, sagt sie.

Ihr Büro im Dezernat 23 - Kriminalwissenschaft und -technik -, ist nicht groß. Drinnen stehen Schreibtisch und Computer, wie bei Millionen anderen. An den Wänden ein paar Porträtzeichnungen von Promis und ihren Lieben - Fingerübungen nennt sie das. Auf dem Arbeitstisch liegen Bleistifte in verschiedenen Härtegraden, Knet- und Radiergummis. Nichts Ungewöhnliches, wäre da nicht im Regal der Toten-Schädel, auf dem nummerierte Radiergummi-Teilchen kleben.

Es ist ein künstlicher Schädel. An ihm kann sie das erläutern, was sie "ein ganz normales handwerkliches Geschäft" nennt. Eine Verflechtung verschiedener Tätigkeiten: Als Gutachterin analysiere sie Gesichter, die Erkenntnisse daraus nutze sie als Rekonstrukteurin. Das Handwerk der Steffi Burrath heißt Gesichtsweichteilrekonstruktion, GWR, wie sie fortan sagen wird, um das lange Wort nicht immer aussprechen zu müssen. Mit diesem Verfahren gibt Frau Burrath den Toten ein Gesicht. Erlernt hat sie es 2002 während eines "Forensic Facial Imaging Course" an der FBI-Akademie in Quantico im Staat Virginia, USA - als erste Deutsche. So ist sie innerhalb der Polizei in Deutschland die Einzige, die auf diesem Gebiet arbeitet. Ihre "Fälle" bekommt sie von den Polizeistationen der ganzen Republik.

Zuerst sehe sie sich den Schädel und alle vorliegenden Materialien genau an. Den Obduktionsbericht, der etwas zu Geschlecht und Sterbealter aussagt. Die Todeszeitpunktberechnung, den Zahnstatus, Hinweise, ob es sich um einen Ausländer handeln könnte etc. Muss sie zum Beispiel einen Vietnamesen zeichnen, sieht sie sich viele Gesichter von Personen aus diesem Land an, um die Besonderheiten wie zum Beispiel Augenform und Haare zu erfassen. Jedes Detail ist wichtig, sagt die 49-Jährige. Die Fotos vom Auffindeort der Leiche können der Diplomingenieurin für Mode- und Bekleidungstechnik wertvolle Hinweise geben, auf Kleidung, Konfektionsgröße und Status zum Beispiel. Auch Gegenstände aus Taschen bringen Erkenntnisse. Und dann zieht sie das Protokoll mit den Weichteilstärken aus der Schublade, einer der wichtigsten Helfer auf dem Weg zum zweiten Gesicht.

Zwischen Schädeldecke und Kinnspitze gibt es 34 Punkte, die ein Gesicht markieren. Den Abstand von der Knochen- bis zur Hautoberfläche nennt man Weichteilstärke, erklärt Steffi Burrath. Jeder Mensch hat seine speziellen Weichteilstärken, sie variieren zwischen zwei und 30 Millimeter, je nach Position am Kopf und Gesichtsfülle. Das Protokoll verdankt die Kriminalwissenschaft dem Bonner Professor Richard Helmer. Er hat in den siebziger und achtziger Jahren lebende Frauen und Männer mit Ultraschall vermessen, Dicke und Dünne, jedes Alter, und hat dann Tabellen erstellt.

Damals dienten seine Forschungen dazu, Menschenköpfe mit Plastilin, Wachs oder Ton möglichst genau nachzuformen. Für Polizeizwecke ist diese Methode heute zu ungenau. "Beim Modellieren mit Knete deckt man Flächen zu. Feinheiten des Knochens und Vertiefungen verschwinden unter der Masse", sagt die Spezialistin. Deshalb favorisiert sie die zeichnerische GWR, bei der sie mit Schattierungen Vertiefungen in Stirn- und Kinnbereich sichtbar machen kann.

Zunächst notiert Frau Burrath, die nun Hinweise auf Alter, Geschlecht und Statur der gesuchten Person hat, aus dem Helmerschen Protokoll die zu verwendenden Weichteilstärken. Zum Beispiel für einen 35-jährigen Mann, durchschnittlich gebaut. Nur wenn sie die richtigen Stärken auswählt, kann sie das Gesicht originalgetreu nachbilden. Dann sind die Radiergummi-Streifen an der Reihe. Sie schneidet sich daraus die 34 Weichteilmarker, nummeriert sie und klebt sie auf die entsprechenden Messpunkte des Schädels. Nun wird der Schädel mit den Markern fotografiert, digitalisiert und im Maßstab eins zu eins ausgedruckt. Dann legt sie Transparentpapier über das Foto und zeichnet anhand der Punkte mit Bleistift das Gesicht nach. Am Knochenbau kann sie genau ablesen, wo die Gesichtsteile gesessen haben. Die Augenhöhlen zeigen, ob die Augen vorn oder hinten liegen, die Zähne, wo der Mund gesessen hat; aus Nasenöffnung und Nasenstachel erkennt sie, wie groß die Nase war, ob nach oben oder unten gerichtet. All diese Einzelheiten platziert sie an die richtigen Stellen. Gezeichnet werden immer Porträt und Profil. Was sie nicht sehen kann, sind z.B. Haare und Frisur, die Form von Augenbrauen und Lippen. Hier muss sie ihre Erfahrung mit einbringen, die Erkenntnisse aus den Unterlagen, aus denen sie sich ein Bild von dem Menschen gemacht hat.

Steffi Burrath hat einen Blick für Gesichter. Antrainiert in vielen Schulungen und Lehrgängen seit der Wende, denn "irgendwie hat sich alles immer ums Gesicht gerankt". Damals wurde die studierte Modezeichnerin arbeitslos, schulte zur Computergrafikerin um, bekam eine Stelle als Layouterin für Lehrgangsunterlagen bei der Polizei. Bald wurden Phantombildzeichner gesucht, also eine zusätzliche Ausbildung. Dann die Digitalisierung der Lichtbildsammlung für Sachsen-Anhalt, und, natürlich, wieder eine Schulung. Die Sachverständigen-Ausbildung folgte, Frau Burrath war nun Gutachterin für visuelle Personenidentifizierung. Das ist auch heute noch ihre Hauptarbeit - Gesichter begutachten, z.B. aus Überwachungskameras bei Banküberfällen, Geldautomaten, Radarkontrollen. Aber auch wegen illegalem Aufenthalt oder Sozialleistungsbetrug kommen Anfragen verschiedener Behörden, ob Foto und ermittelte Person übereinstimmen.

Von der Methode der Weichteilrekonstruktion, die in den USA angewendet wurde, erfuhr die Magdeburgerin erst bei einem weiteren Lehrgang in Ulm. Damals wurden Schädel-Kopien mit Kurier von Deutschland nach Amerika geschickt. Ist das nicht zu teuer? fragte Steffi Burrath. Da erfuhr sie von dem Lehrgang beim FBI und hatte Glück: Sie durfte teilnehmen. Nun löst sie die Fälle im Lande, durchschnittlich zwei bis drei im Jahr. Zirka 60 Prozent ihrer Gesichtsweichteilrekonstruktionen führten bisher zu der vermissten Person.

Manche der Fälle werden wohl nie aufgeklärt, vermutet die zierliche Frau. Wer sollte beispielsweise die 220 Jahre alte Leiche aus dem Nordseewatt vermissen? Auch bei Ausländern und Obdachlosen ist die Identifizierung mitunter schwierig. Oft ist es Glückssache oder Zufall, ob jemand gerade eine bestimmte Fernsehsendung sieht, das Bild in einer Zeitung entdeckt.

So viele Argumente es auch geben mag, die unaufgeklärten Fälle lassen Steffi Burrath keine Ruhe. Man denkt über die Leute nach, baut sich Phantasiewelten auf. Wenn ein Vater oder ein Jugendlicher nicht mehr auftaucht, was hängt da dran, was bedeutet das für die Familien? Oder die Frau Ende Dreißig, die im Februar 2006 in Hannover gefunden wurde. Ihre Identität wurde damals schon gesucht, jetzt wurde der Fall bei "Kripo live" mit einer zweiten Zeichnung noch mal aufgerollt. Da verschwindet jemand mitten aus dem Leben, und niemand vermisst ihn? Warum meldet sich niemand? Trug sie das Haar anders? Was kann ich noch verändern? Die müssen doch zu finden sein.

"Das ist der Hauptgrund, der mich antreibt, warum ich besonders gut sein will", sagt Frau Burrath. Trotzdem versuche sie, die Probleme nicht mit nach Hause zu nehmen, in ihrer Freizeit abzuschalten. Am besten gelingt ihr das bei der Gartenarbeit im Sommer. Im Winter kehrt sie zurück zu ihren Wurzeln, näht historische Kleider und gestaltet Hüte. Zu Country-Festen trägt sie die oder als Statistin in Pullman-City im Harz. Und niemand, der sie dort so heiter sieht, käme wohl auf die Idee, dass sie sonst an Toten-Schädeln arbeitet.