Fälschungen im Internet Fälschungen im Internet: Ewige Lügen
Halle (Saale)/MZ. - Auf dem Bild zeigt Erich Honecker dieses schmale Lächeln, das bei ihm von großer Freude kündet. Hinten an der Wand hängt Lenin, vor dem DDR-Staatschef wedelt Fidel Castro gerade mit dem Finger auf einer Karte herum. Da liegt sie, die Karibikinsel, die jetzt der DDR gehört! Es ist der 19. Juni 1972 und eben ist eine der schönsten Lügenstorys der Internetära geboren worden.
Zu verdanken ist das dem halleschen Maler Gabriel Machemer. Der stolperte eines Tages über die Geschichte der Verleihung des Namens "Ernst Thälmann" an die winzige Insel. Beim Internet-Lexikon Wikipedia verfasste Machemer einen Eintrag dazu, in dem er Castros Erlass zur Namensvergabe zu einer Schenkungsurkunde erklärte. "Eine eigene Karibikinsel für die DDR?", fragte der Künstler.
Ein Stück eigene Karibik
Eine bezaubernde Idee, die Kreise zog. Bald diskutiert das Netz, ob Deutschland nun ein Stückchen eigene Karibik habe - schließlich müsse die Insel ja mit der Vereinigung Eigentum des größeren Deutschlands geworden sein. 2001 gründete sich die Initiative Thälmann-Insel. Motto: "Wir wollen unsere Insel zurück". Zeitungen schrieben über die Gebietsansprüche Deutschlands an Kuba.
Das Auswärtige Amt musste reagieren. Bei der Widmung der Insel "handelte es sich um einen symbolischen Akt, der nichts mit Besitzverhältnissen zu tun hat", hieß es diplomatisch. Den Eifer der Inselfans vermochte das kaum zu bremsen: Immer wieder taucht die "DDR-Karibikinsel" seitdem aus dem Meldungsmeer auf. Selbst als sich der Urheber endlich zu seiner kleinen Geschichtsfälschung bekannt hatte, blieb die Umbenennung für viele eine "Schenkung".
So ist das im Netz. Einmal in der Welt, hält jede Lüge ewig. Andreas Kopietz hat kürzlich unfreiwillig den Beweis angetreten. Im Wikipedia-Eintrag zur Berliner Stalin-Allee brachte der Redakteur der Berliner Zeitung Anfang 2009 aus Spaß eine Ergänzung an. "Wegen der charakteristischen Keramikfliesen wurde die Straße zu DDR-Zeiten im Volksmund auch ,Stalins Badezimmer' genannt", flunkerte Kopietz.
Mit ungeahnten Folgen: Binnen zweier Jahre wurde aus dem frei erfundenen "Volksmund" pure Realität. Reiseführer und Reportagen zitierten den Begriff, eine Universität verlieh Glaubwürdigkeitssterne, eine Hauptseminararbeit über die Utopie sozialistischer Architektur verwies auf die Wortschöpfung. Und als der Urheber versuchte, die Geschichte zu reparieren, scheiterte er: Kaum hatte er seinen Realität gewordenen Wikipedia-Satz gelöscht, stellte ihn ein anderer Nutzer schon wieder neu ein.
Graig Shergold weiß, wie sich so etwas anfühlt. Als der neunjährige Engländer Ende der 80er Jahre an Krebs erkrankte, wünschte er sich, vor seinem Tod wenigstens noch ins Guinessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden. Und zwar als der Mensch, der die meisten Postkarten bekommen hat. Nach einem Jahr schon war das Ziel erreicht. 16 Millionen Postkarten katapultierten den kleinen Jungen ins Buch der Rekorde.
22 Jahre danach ist Shergold geheilt und gesund - aber Karten bekommt er immer noch. Ja, seit im Internet Emails herumflattern, die auf seinen einstigen letzten Wunsch hinweisen, ist der Kartenberg auf 400 Millionen Stück gewachsen. Immer um Weihnachten müssen täglich rund 10 000 Karten zu einer Recycling-Anlage abgefahren werden. Dabei hat die Guinessbuch-Redaktion die Kategorie "Grußkarten" längst gestrichen. Und die britische Botschaft informierte offiziell, dass die Kartenaktion für Graig Shergold beendet ist.
Es nützt nichts. Im Netz endet nichts wirklich in dem Moment, in dem es abgeschaltet scheint. Seit 1997 der erste so genannte Hoax (Scherz) namens "GoodTimes" die Runde machte, vergeht keine Woche, in der nicht falsche Virenwarnungen, Terrorankündigungen oder die Enthüllung neuer Weltverschwörungen hunderttausende Leser bewegen. Erschreckte "Good Times", den es in Wirklichkeit nie gab, seine Empfänger durch die darin angekündigte "unvergleichliche Zerstörungskraft", zirkulieren heute Aufrufe, eine Petition gegen ein angeblich drohendes "Heilpflanzenverbot" zu unterschreiben, Warnungen vor Spionageadaptern in Internetcafés und Bilder, die ein Handy zeigen, das explodiert ist, weil der Besitzer versuchte, beim Aufladen zu telefonieren.
Nichts daran hält längerer Überprüfung stand. Dennoch sind viele Menschen bereit, die hanebüchenen Storys zu glauben. Sie werden weitergeleitet, um auch Freunde und Bekannte zu informieren. Und nach drei, vier Monaten oder Jahren ist es meist soweit: Die Mail mit der Bitte um eine Knochenmarkspende, die man selbst weitergeschickt hatte, kommt zurück. "Hi Leute, ich bin ziemlich verzweifelt", heißt es dann wieder, "weil meine Freundin bald stirbt, wenn nicht ein Spender gefunden wird." Zu spät. Das Mädchen, um das es mal ging, ist seit elf Jahren tot.
Lügen aber sind unsterblich. Noch heute glauben Millionen die Geschichte vom "Tourist Guy", der am 11. 9. 2001 rein zufällig auf dem Dach des Süd-Towers stand, als die erste Todesmaschine in den Turm steuerte. Ein Bild, Sekunden vor dem Einschlag gemacht, zeigt den jungen Mann direkt am Geländer, er ahnt nicht, dass er gleich sterben wird und die Feuerwehr später nur seine Kamera aus den Trümmern bergen kann.
Ein Bild geht um die Welt
Das Bild ging um die Welt, obwohl so ziemlich alles daran falsch ist. Der Flugzeugtyp stimmt nicht, die Anflugrichtung ist verkehrt, zum Zeitpunkt der Anschläge war das Dach noch geschlossen und es war viel zu warm für eine Wollmütze. Dennoch brauchte es lange, bis die Fälschung aufflog.
"Urban Legends" nennen die Amerikaner solche Phänomene. Einmal da, bleiben sie für immer Glaube von so vielen, dass Fakten sie nicht mehr widerlegen können. So ist die Mondlandung bis heute für zahllose Menschen eine Inszenierung aus dem Studio, noch mehr Menschen sind der Ansicht, dass Kondensstreifen am Himmel von geheimen Regierungsprojekten zur Klimabeeinflussung künden.
Dagegen lässt sich nichts machen, wie die Realität immer wieder beweist. Die Alien-Obduktion von Roswell etwa, die der Londoner Filmproduzent Ray Santilli Mitte der 90er im Stil der 40er inszenierte, wurde vor fünf Jahren von ihm selbst als Fälschung enttarnt. Doch wer glauben will, findet dafür auch einen Grund: Inzwischen überwiegt bei Youtube, wo die "Alien-Obduktion" ein Superhit ist, die Meinung, die Regierung habe den Regisseur gezwungen, zu lügen. Die Landung der Außerirdischen müsse ja weiter vertuscht werden.