Experte zweifelt an Kaperung der «Arctic Sea»
London/dpa. - Das mysteriöse Verschwinden des Frachters «Arctic Sea» nach der Fahrt durch den Ärmelkanal sorgt weiter für wilde Spekulationen. Nicht alle Fachleute folgen dabei der Theorie, der Frachter sei von Piraten gekapert worden.
Ein russischer Schifffahrts-Experte brachte am Donnerstag eine geheime Fracht ins Spiel, die das Schiff noch vor dem eigentlichen Start seiner Tour von Finnland nach Algerien in Russland an Bord genommen haben könnte. «Als einzig vernünftige Antwort erscheint mir, dass das Schiff heimlich mit etwas beladen wurde, von dem wir nichts wissen», zitierte die britische Nachrichtenagentur PA am Donnerstag Michail Wojtenko, der den Informationsdienst «Sowfracht Maritime Bulletin» herausgibt.
Auf diese geheime Fracht könnten es die möglichen Entführer nach Einschätzung von Wojtenko abgesehen haben. «Wir dürfen nicht vergessen, dass der Frachter vor seiner Beladung in Finnland zwei Wochen in Kaliningrad vor Anker lag», sagte Wojtenko. «Ich bin aber sicher, dass es sich nicht um Drogen oder andere kriminelle Fracht handelt. Ich denke, es ist etwas, das teurer und gefährlicher ist. Offensichtlich wollte eine dritte Partei verhindern, dass der Transport durchgeführt wird.»
Den letzten Funkkontakt zu dem Schiff, das unter maltesischer Flagge für eine finnische Reederei eine Ladung Holz nach Algerien bringen sollte, hatte die britische Küstenwache am 28. Juli. Damals durchquerte die «Arctic Sea» die Straße von Dover. Mittlerweile schließt die Küstenwache eine Entführung durch Piraten nicht mehr aus. Auch die russische Marine beteiligt sich an der Suche nach dem Schiff, dessen Besatzung aus 15 russischen Seeleuten besteht. Die Reederei blockte weiter alle Anfragen zum Verschwinden des Frachters ab.
Bereits am 24. Juli hatten maskierte und bewaffnete Männer den Frachter nach Angaben der Reederei in der Ostsee für 12 Stunden in ihre Gewalt gebracht, das Schiff anschließend aber wieder verlassen. Den Männern war es gelungen, an Bord zu kommen, weil sie sich als Drogenfahnder ausgegeben hatten. Interpol hatte später die Kaperung bestätigt.
Piratenangriffe auf Schiffe oder nur das unbemerkte Verschwinden eines Frachters sind nach Expertenansicht vor der deutschen Küste undenkbar. «In diesen dicht befahrenen und gut kontrollierten Gewässern überfällt man nicht einfach mal so ein Schiff», sagte der für die Überwachung der östlichen Nordsee zuständige Leiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes Cuxhaven, Bernhard Meyer, in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur dpa. Auch im Fall der «Arctic Sea» hält der Fachmann Überlegungen um eine Seeräuber-Attacke «für reine Spekulation».
Verwunderlich sei aber, dass offenbar auch von der Reederei nicht Alarm geschlagen wurde. «So lange sich ein Schiff in Funk-Hörweite und Radar-Sichtweite von der Küste befindet, müsste sein Verschwinden eigentlich auffallen», meint Meyer.
Das gilt zumindest für die Schifffahrtsstraßen in der Deutschen Bucht. «Wer in unsere Gewässer einlaufen will, muss sich über Funk anmelden», macht Meyer deutlich. Die für die Überwachung des Schiffsverkehrs zuständigen Revierzentralen der Wasser- und Schifffahrtsämter in Wilhelmshaven, Cuxhaven und Brunsbüttel behalten dann das Schiff per Funk und über Radar im Blick, bis es seinen Bestimmungshafen erreicht oder die Gewässer wieder verlassen hat.
Zu jedem Schiff registrieren die Revierzentralen Informationen beispielsweise über Ladung und Fahrtziel, die sie dann beim Wechsel ins nächste Revier an die Kollegen weiterreichen. Zusätzliche Informationen liefert das Automatische Identifizierungssystem (AIS), über das jedes Berufsschiff verfügen muss. «Das AIS lässt sich zwar abschalten, aber ein Schiff von der Größe eines Frachters kann sich nicht fürs Radar unsichtbar machen», meint Meyer.
Sollte ein Frachter seinen angemeldeten Kurs verlassen oder gar ganz vom Radarschirm verschwinden, reagieren die Revierzentralen sofort: «Erst versuchen wir das Schiff per Funk zu erreichen, wenn das nicht klappt, schicken wir Polizei, Zoll oder Seenotretter dorthin», erläutert Meyer. Undenkbar sei es auch, dass ein Schiff stundenlang Kreise fährt, wie es die «Arctic Sea» angeblich vor Gotland getan hat: «Da schauen wir sofort nach, notfalls per Hubschrauber. Wir sind auf alle möglichen Einsatz- und Notfälle vorbereitet.» Piratenüberfälle gehören aber nicht dazu: «Der Gedanke daran ist einfach zu abwegig.»
Als ähnlich streng und lückenlos gelten auch die Überwachungsmaßnahmen im Ärmelkanal. Aber jede Überwachung habe Grenze, schränkt Meyer ein. Auf hoher See und außerhalb der Reichweite von Funk und Radar sei jedes Schiff auf sich allein gestellt: «Was draußen auf dem Atlantik passiert, bekommt keiner mit.» Irgendwann und irgendwo werde aber jedes Schiff in einem Hafen erwartet: «Spätestens dann, wenn es dort nicht ankommt, müsste die Reederei eigentlich Alarm schlagen», sagt Meyer.