Bremen Bremen: Kind durchlitt Qualen vorm Tod

Bremen/dpa. - Massive Fehleinschätzungen der Behörden vor dem Tod des kleinen Kevin haben die Bremer Sozialsenatorin zum Rücktritt veranlasst. Nur einen Tag nach dem Fund der Kinderleiche im Kühlschrank seines drogensüchtigen Vaters wurden schockierende Einzelheiten über die Entscheidungen der zuständigen Behörde bekannt,die das Kind mehrfach und trotz Warnungen in die Obhut seines Vaters zurück gegeben hatte. Die Obduktion der Leiche ergab, dass der Zweijährige schwerer Gewalt ausgesetzt war.
Die Ermittlungen wurden auch auf die Bremer Sozialbehörde wegenVerletzung der Fürsorgepflicht ausgeweitet. Bei der Obduktion wurden bei Kevin Brüche des linken Oberschenkels, des rechten Schienbeins, des linken Unterarms sowie Blutungen auf dem Schädel festgestellt. Dies teilte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch mit. Der Todeszeitpunkt und die genaue Todesursache seien weiter unklar.
Zuvor hatte Bremens Regierungschef Jens Böhrnsen (SPD) eingeräumt, bei Kevin seien bereits vor Monaten in einem Kinderheim Knochenbrüche, Untergewicht und Entwicklungsstörungen festgestellt worden. Gegen den Willen der Heimleitung hätten die Behörden den kleinen Jungen dann seinem vorbestraften Vater zurückgegeben.
Der Fall des Zweijährigen sei ihm bereits seit Anfang des Jahresbekannt gewesen, sagte Böhrnsen. Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD)habe ihm versichert, alles in die Wege geleitet zu haben. «Doch dasdringend und zwingend Nötige ist nicht geschehen, dass wissen wirheute.» Die Senatsverwaltung hatte angegeben, nichts von denErmittlungen gegen den Vater wegen des ungeklärten Todes derebenfalls drogensüchtigen Mutter von Kevin gewusst zu haben.
Die Richterin, die Kevin unter die Vormundschaft des Jugendamtesstellte, habe sich mehrfach an die Behörden gewandt, «dass dringendetwas geschehen müsse». Gegen den 41 Jahre alten Vater wurde amMittwoch Haftbefehl wegen Totschlags und Misshandlung vonSchutzbefohlenen erlassen.
Die Staatsanwaltschaft weitete indes ihre Ermittlungen über dieVerdachtsmomente gegen den Vater auch auf Bremer Behörden aus. Eswerde wegen Verletzung der Fürsorgepflicht gegen unbekannteMitarbeiter des Amtes für soziale Dienste ermittelt, teilte dieStaatsanwaltschaft mit. Das Amtsgericht habe die Herausgabe der Aktenzum beschuldigten Vater und dem verstorbenen Kind angeordnet.
Am Dienstag war die Leiche gefunden worden, nachdem die Polizeimit Gewalt die Tür zur Wohnung aufgebrochen hatte. Der Junge warunter der Vormundschaft des Jugendamtes, lebte jedoch beim Vater undwar seit Juli nicht mehr gesehen worden. Polizei und Jugendamtwollten den Jungen acht Tage nach einem Gerichtsbeschluss bei demVater abholen. Das Kind soll bereits mehrere Tage tot gewesen sein.
Der Fall werde trotz ihres Rücktritts sorgfältig aufgeklärt,versicherte Röpke. Böhrnsen bedauerte: «Bei Kevin müssen wir davonausgehen, dass er für die Eltern eine Last war. Und sie haben ihnoffenbar misshandelt.»
In der Hansestadt Bremen gebe es die Linie, Kinder eher bei ihrendrogenabhängigen Eltern zu lassen, kritisierte die Leiterin desBremer Kinderschutzzentrums, Petra Stern, in einem dpa-Gespräch. «Ichsehe die derzeitige Praxis mit großer Skepsis.» Sie favorisierebesonders im Fall von Heroinabhängigen die Unterbringung der Kinderin Heimen oder bei Pflegefamilien. Dies sei allerdings erheblichteurer.
Nach Ansicht der Deutschen Kinderhilfe ist «der tragische,sinnlose und vermeidbare Tod des kleinen Kevin ... ein weiterer Belegfür den desaströsen Zustand des deutschen Kinder- undJugendhilfesystems». Jugendämter würden sich immer bewusster dafürentscheiden, die Kinder trotz Gefahr für Leib und Leben in ihrenFamilien zu belassen. Eine Unterbringung in Pflegefamilien oderHeimen sei «schlichtweg zu teuer».
Das Schicksal des Jungen ist kein Einzelfall. In den vergangenenJahren starben in Deutschland mehrere Kinder qualvoll anMangelversorgung und Misshandlungen, teils waren vorher auch dieSozialbehörden eingeschaltet gewesen.
Als Reaktion auf die zahlreichen Fälle von vernachlässigtenKindern forderte der Kriminologe Rudolf Egg, die medizinischenVorsorgeuntersuchungen gesetzlich vorzuschreiben. Bei einerUntersuchungspflicht hätten die Jugendämter einen Ansatzpunkt,möglichen Fällen im Verborgenen auf die Spur zu kommen.
Die SPD fordert alle gesellschaftlichen Kräfte auf, sich stärkerfür das Wohl der Kinder einzusetzen. «Es gibt kein Recht derGesellschaft, der Vernachlässigung von Kindern zuzusehen», sagte SPD-Generalsekretär Hubertus Heil der «Westdeutschen Allgemeinen Zeitung»in Essen. Er regte in diesem Zusammenhang an, skandinavischenBeispielen zu folgen und eine verpflichtende medizinischeVorsorgeuntersuchung einzuführen. So ließen sich schon früh Defizitein der Entwicklung erkennen.