Babymorde Babymorde: «Das Dritte war ihr schon zu viel»

Brieskow-Finkenheerd/MZ. - Dienstags kommt die Müllabfuhr. Das zählt zu den Konstanten im nicht sonderlich aufregenden Leben in dem kleinen Nest hinter dem Oderdeich. Und so stehen die Tonnen an diesem Dienstag ordentlich aufgereiht auf den Bürgersteigen. Plötzlich gerät eine Banalität zum Medienereignis, werden simple Müllcontainer zum begehrten Fotoobjekt, seit bekannt ist, dass eine Frau aus dem Ort neun ihrer Kinder kurz nach deren Geburt weggeworfen hat wie Unrat.
Die Menschen in dieser Gegend neigten nicht zur Wichtigtuerei, erklärt der Mann hinter dem Tresen eines Gemüsestands das beredsame Schweigen, wenn die Sprache auf den Babymord kommt. Und in diesen schwierigen Zeiten habe jeder genug mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen. Da habe keiner Zeit, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen.
Der Ort des Grauens wirkt an diesem sonnigen Augusttag ziemlich unspektakulär, hätten sich vor der Garage, in der der 27-jährige Neffe der mutmaßlichen Kindsmörderin beim Aufräumen auf "Überreste von Kleinstkindern oder Säuglingen" gestoßen war, nicht Mannschaftswagen der Polizei aufgebaut. Die "Garage" befindet sich im Rohbau: unverputzt, keine Fensterscheiben, Lücken im Mauerwerk. Die Bahnhofsstraße 22 ist eines dieser typischen Siedlerhäuser, wie es noch viele gibt in den Oderniederungen. Einzig der Jägerzaun sieht aus, als wäre er kürzlich nachlackiert worden. Das Haus der Familie K. präsentiert sich im sozialistischen Einheitsgrau.
Mutter unter Schock
"Die hatten es nie dicke, aber anständige Leute. Die Mutter hat sich für die anderen aufgeopfert", sagt eine Nachbarin. Sabine H., die mutmaßliche Täterin, hat hier nur zeitweise gewohnt. Aber immer mal wieder, wenn es Schwierigkeiten mit ihrem Mann gab oder sie wieder einmal wegen einer Räumungsklage auf der Straße stand, kehrte sie ins elterliche Haus zurück, in dem bis heute ihre 55 Jahre alte Schwester und die fast 80-jährige Mutter leben. Sie soll nach der Verhaftung ihrer Tochter einen Schock erlitten haben. Der Vater, Arbeiter bei der Reichsbahn, ist lange tot.
Eine scheinbar geordnete Welt. Früher muss der Garten proper gewesen sein, heute wirkt er verwildert. Das große Grundstück habe die Familie K. überfordert, erzählt man. So wie das Leben der heute 39-jährigen Sabine, dem Nesthäkchen mit überdurchschnittlich gutem Schulabschluss und ordentlicher Ausbildung zur Zahnarzthelferin, irgendwann über den Kopf gewachsen sein muss. Das erste Kind, das sie mit 18 zur Welt brachte, sei ein Wunschkind gewesen, hat sie der Staatsanwältin erzählt, "das zweite - naja. Und das dritte war ihr schon zu viel".
Drei junge Bereitschaftspolizisten rücken mit Spaten an, um im Garten nach Spuren zu suchen. Der Gedanke, es könnten sich unter dem Schutt, Gerümpel und Laub vom letzten Herbst Hinweise auf verscharrte Babyleichen finden, lässt die Leute im Ort schaudern. Die Ermittlungen sind schwierig, weil Sabine H. in ihrem unsteten Leben oft ihren Aufenthaltsort gewechselt hat. Zu den untersuchten "Örtlichkeiten", die die Polizei mit Leichensuchhunden inspiziert, gehören sowohl Wohnungen als auch Laubengrundstücke. Niemand will je etwas Ungewöhnliches bemerkt haben im Leben der Sabine H. Die Verkäuferinnen im Getränkemarkt "Loko" zucken vielsagend die Achseln. In der kleinen schummerigen Bahnhofskneipe verstummen die Gespräche, wenn jemand hereinkommt. Gerade haben sie noch hörbar getuschelt über die "andauernden Männergeschichten." "Kleine Nutte" nennt ein Mann am Tresen die Frau, die des neunfachen Totschlags dringend verdächtig ist.
Erste Konturen
Ganz allmählich erhält die Persönlichkeit der Mutter, die mit ihren Verzweiflungstaten in die Kriminalgeschichte eingehen wird, erste Konturen. So wenig geradlinig das unglückliche Leben der Frau verlaufen ist und so häufig sie sich Trost gesucht und vielleicht sogar Erfüllung bei anderen Partnern gefunden haben mag - als Vater ihrer getöten Kinder gibt sie allein ihren Ehemann an. "Sie hat die häufige, auch längere Abwesenheit des Ehegatten genutzt und ist bei ihren grausigen Taten niemals von ihm gestört worden", formuliert Anette Bargenda von der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) die schwer nachzuvollziehenden Umstände dieses "Familienlebens". In Brieskow kann man hören, der Mann sei bei der Stasi gewesen, weswegen über die ersten Kindstötung im Jahre 1988 ein amtlicher Mantel des Schweigens gebreitet worden sei.
Das alles beantwortet freilich nicht die Frage, wie es geschehen konnte, dass eine Frau neunmal schwanger wird und niemand das Verschwinden der Babys als zumindest ungewöhnlich empfindet. "Wir sind", so die Staatsanwältin, "völlig ratlos. Aber es gibt Frauen, da sieht man bis zum Schluss nichts." Als Motiv vermutet sie Überforderung, von Verhütung habe Sabine H. nichts gehalten. Über ihre Entbindungen habe sie mit niemandem geredet. Sie habe gewartet, dass ihr Mann sie darauf anspricht.