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Autobahn-Schütze Autobahn-Schütze: Links fahren rechts schießen

Von Harald Biskup 26.10.2014, 14:03

Es ist schon fast ein Ritual. Auch am letzten regulären Verhandlungstag geht der Angeklagte, nachdem er von zwei Justizwachtmeistern in den Schwurgerichtssaal begleitet worden ist, auf den Staatsanwalt zu und begrüßt ihn mit Handschlag. Dabei lächelt der immer noch schwergewichtige Trucker, der bei seiner Festnahme 158 Kilo gewogen haben soll, aber in der Untersuchungshaft kräftig abgespeckt hat, den Ankläger an, der zwölf Jahre Haft für ihn fordern wird. In seinem Schlusswort, das der Vorsitzende ihm fast abringen muss, stellt der Fernfahrer, der als „Autobahnschütze“ in die Kriminalgeschichte eingehen wird, lapidar fest, „der Herr Oberstaatsanwalt macht ja auch bloß seinen Job“.

Seit Mitte August muss sich Michael Harry K. vor dem Landgericht Würzburg verantworten. Er hat in langen Befragungen zugegeben, dass er von 2009 an Schüsse auf Ladungsgut und Aufbauten von Lkw abgegeben hat. Vier Personen wurden dabei verletzt. Niemals habe er auf andere Verkehrsteilnehmer gezielt, betont aber der Angeklagte. Ganz im Gegenteil, hat K. mehrfach erklärt, sei es ihm bei seinen „Denkzetteln“ darum gegangen, die Ladung von Lkw, vornehmlich von Autotransportern, zu treffen und zu beschädigen. Um die Gefährdung zu minimieren, habe er stets die Fahrzeuge ins Visier genommen, die ganz hinten auf dem Anhänger geladen waren. Er wisse nicht, „welcher Esel“ ihn bei seinen Aktionen „geritten“ habe, hatte K. am ersten Prozesstag erklärt, nur dass er Frust gegenüber rücksichtslosen Kollegen empfunden und sich für deren Verhalten habe rächen wollen. Gewagte Überholmanöver, die zunehmende Hektik, der allabendliche Kampf um einen freien Autobahn-Park- und Schlafplatz – all das empfand der Mann, der sein Leben lang hinterm Steuer gesessen hat, als „Krieg“. Als einen Krieg, in dem er sich gegen vermeintliche anonyme Feinde glaubte zur Wehr setzen zu müssen. Durch mehr als 700 Schüsse, die er beim Fahren durch das geöffnete linke Fenster meist auf Lastwagen auf der Gegenfahrbahn abgegeben hat. „Mit links lenken und mit rechts schießen“, so hat er seine Methode vor Gericht mit erstaunlicher Offenherzigkeit beschrieben.

Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen, ein ruhiger, sachlicher Mann, in Ausdrucksweise und Attitüde kein Scharfmacher, hält bis in sein Schlussplädoyer an dem Anklagevorwurf fest: K, habe sich „sehenden Auges über die Gefahrenlage hinweggesetzt“ und zwar nicht mit direktem, aber doch mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Für seine „ungemessene Kompensation des Frustabbaus“ habe er „erhebliche kriminelle Energie“ aufgewandt. Sogar das Mordmerkmal Heimtücke sieht Raufeisen in einem Fall als gegeben an. Wegen vierfachen versuchten Mordes, Sachbeschädigung, fahrlässiger Körperverletzung, Eingriffs in den Straßenverkehr und Verstößen gegen das Waffengesetz summiere sich die Strafe auf 141 Jahre und sechs Monate. Bei Würdigung aller entlastenden Momente komme er, erläutert der Staatsanwalt, auf eine Gesamtstrafe von zwölf Jahren. Das hänge mit der „Strafrahmenverschiebung“ zusammen und basiere auf ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Anwalt Franz-Josef Krichel flüstert dem Angeklagten etwas zu, und Michael Harry K. nickt wie schicksalsergeben. Seine Verteidiger halten sechs Jahre für angemessen. Eine Tötungsabsicht haben sie vom ersten Tag an zurückgewiesen. „Man kann Herrn K. Vieles unterstellen, aber nicht, dass er den Vorsatz hatte, Leben zu vernichten.“ sagt am Ende langer Ausführungen, die das Verständnisvermögen seines Mandanten übersteigen, Wahlverteidiger Guido Reitz. K. nickt wieder, aber diesmal ist es ein bekräftigendes, zustimmendes Nicken.

Micha der Eigenbrödler

Wer ist dieser Mann, der jahrelang Furcht und Schrecken auf deutschen Autobahnen verbreitet hat? „Was ihm zur Last gelegt wird, ist mit seinem Verhalten vor Gericht einfach nicht in Einklang zu bringen“, sagt in seinem Dachgeschoss-Büro in der Rheinbacher Kanzlei Verteidiger Krichel. „Die Taten passen einfach nicht zu seiner Persönlichkeit.“ Er kennt das aus anderen Fällen, dass man auch nach zahllosen sehr persönlichen Gesprächen weiter vor einem Rätsel steht. Krichel findet das psychiatrische Gutachten des erfahrenen Prozess-Sachverständigen Professor Henning Saß nicht weiterführend. Der hatte bei dem Fernfahrer „egoistische und narzisstische Züge“ ausgemacht und ihm eine „Neigung zur Selbstüberschätzung“ attestiert. Früh habe sich bei K., der aus Halle an der Saale stammt, ein „deutliches Ressentiment gegen Staat und Gesellschaft entwickelt“. Er habe sich über Regeln hinweggesetzt und sein eigenes Rechtfertigungssystem erfunden.“ Weil er mit Freunden bandenmäßig Autos, „am liebsten West-Schlitten irgendwelcher Partei-Bonzen“, gestohlen hatte, wurde er als „Rädelsführer“ zu vierzehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Eine drakonische Strafe, von der er bis zu einer Amnestie 1987 zehn Jahre absaß. Im Sommer 1989 nutzten K. und seine Frau einen Ungarn-Urlaub zur Flucht in den Westen. Im 140-Seelen-Eifeldörfchen Frohnrath, einem Ortsteil von Kall, hatten seine Eltern, auch aus Halle stammend, nach der Wende ein Haus gekauft. Die Ein-und Zweifamilienhäuser am Hagelsheck zeugen von bescheidenem Wohlstand, die Nummer acht ist deutlich schlichter. Der neue Besitzer hat einen Briefkasten aus Edelmetall aufgestellt. Ein lokales Immobilien-Portal rühmt die extrem niedrige Kriminalitätsrate.

Jetzt kurz vor der für Donnerstag geplanten Urteilsverkündung ist Michael Harry K. wieder ein Thema im Ort. In Variationen sagen alle, die ihn gekannt haben, das Gleiche: Hilfsbereit sei er gewesen, der Micha, ein Eigenbrötler, der bei keinem der vielen Vereine „angedockt“ habe. Höchstens beim Sommerfest hätten er und seine Frau Christel, früher Kassiererin in einem Kaller Baumarkt, mal vorbeigeschaut. „Der Mann hat keinerlei biografische Spuren hinterlassen und noch nicht mal eine Lücke“, meint Ortsvorsteher Karl Vermöhlen. Der Einschätzung des SPD-Manns, K. sei „ein Teflon-Typ“, an dem alles abpralle, widerspricht Rechtsanwalt Krichel energisch. „Die Vorwürfe prallen ganz und gar nicht an ihm ab. Er weiß, dass er Schuld auf sich geladen hat und dafür geradestehen muss.“

„Für uns war der Michael einfach nur ein großes Kind“, sagt Nachbar Hermann-Josef Limburg, der auch Vorsitzender der Dorfgemeinschaft ist. „Der hat auf der Straße Fernsteuer-Autos fahren lassen und Böller gern schon lange vor Silvester krachenlassen..“ Im Grunde sei er ein anständiger Kerl, „der zwei Gesichter hat, aber wir kannten halt nur das eine“.

Dass die K.’s ebenso wie die Eltern von drüben kamen, dass wusste jeder in dem winzigen Ort in der Nordeifel. Außerdem hörte man es am Tonfall. Bekannt war auch, dass Vater K. als Major in der Nationalen Volksarmee der DDR gedient hat. „Der hieß hier nur ’et Majörche’, weil er seinen Hund immer so herumkommandierte.“ Von K.s verbotenem heimlichen Treiben hat nie jemand etwas mitbekommen. Umso größer war der Schock, als Medien in ganz Deutschland berichteten, der Spuk mit den Autobahnschüssen sei vorbei und die Spur führe nach Frohnrath. „Als Polizisten in weißen Schutzanzügen mit Spürhunden seinen Lkw durchsuchten“, erinnert sich Hans Peter Pütz, „haben wir zuerst vermutet, der Micha könnte vielleicht was mit Drogenschmuggel zu tun haben.“ Aber auch das hätte absolut nicht zu dem Bild gepasst, das sich die Leute von dem scheinbar in sich selbst ruhenden Einzelgänger in mehr als zehn Jahren gemacht hatten. Dass es in ihm brodelte und zu welchen Mitteln er griff, um seine angestaute Wut abzureagieren, wenn er sonntagabends mit seinem blank gewienerten weißen 40-Tonner wieder auf Tour ging, das konnte freilich niemand ahnen.

Kein böses Wort

Auch nicht sein ehemaliger Chef Bernd Kreutz, einer der beiden Geschäftsführer der Spedition Hermanns und Kreutz in Kalterherberg nahe der belgischen Grenze. Als Zeuge im Prozess ist Kreutz kein böses Wort über seinen Mitarbeiter über die Lippen gekommen. Auch im Gespräch findet der quirlige 48-jährige fast nur positive Attribute über K. Ja, stur sei er manchmal gewesen, vielleicht auch etwas verstockt, „aber grundsolide und einer meiner Besten“ Er durfte den Actros steuern, mit seinen mehr als 500 PS so etwas wie der Rolls Royce unter den Lastzügen. „Samstags ist er verhaftet worden, montags sollte er den nächsten Wagen übernehmen. Der Micha bekam immer die neuesten Fahrzeuge.“ Eine interne Auszeichnung, die K. zu schätzen wusste. „Wir haben 140 Fahrer. Ich hätte 130 anderen das eher zugetraut als ihm.“ Bei Branchentreffen sei natürlich immer wieder mal von der Angst vor dem großen Unbekannten geredet worden. „Wenn ich mir vorstelle, das war mein Micha, schaudert es mich jetzt noch.“

Draußen vor der Halle wird ein tschechischer Lastzug entladen. „Alex“ steht auf den Schild hinter der Windschutzscheibe. Ob K. auch mit einer Namenstafel unterwegs war und mit einem kitschig beleuchteten künstlichen Weihnachtsbaum? Zur Tarnung gewissermaßen, zur Vorspiegelung von Normalität? Wer so bieder quer durch Deutschland fährt, ballert doch nicht auf wildfremde Autos.

Erstaunlicherweise hegt Spediteur Kreutz bis heute kaum Groll gegen seinen früheren Fahrer. Schon im Aufbruch wiederholt er seine Ankündigung aus dem Gerichtssaal, er werde K. in der Haft besuchen. „Der Micha soll mir sagen, warum er das wirklich gemacht hat. Krieg auf der Autobahn, das ist doch ein Schmarrn.“