Armut in Nordamerika Armut in Nordamerika: US-Städte bekommen Obdachlosigkeit nicht in den Griff

New York/Los Angeles - Es gab Gnocchi. Und Lachs. Und edelste Stücke vom Rind. Außerdem Salat, Artischocken, verschiedene Vorspeisen. Gegessen wurde auf weiß eingedeckten Tischen im Festsaal. Das Bankett für Obdachlose, dass eine Brautmutter nach dem Rückzieher eines Bräutigams im kalifornischen Sacramento veranstaltete, war eine glückliche Nachricht für ein paar Menschen ohne festes Zuhause - und zugleich ein tragisch-seltener Einblick in eine Welt, die vielen von ihnen womöglich für den Rest ihres Lebens verschlossen bleiben wird.
578 000 Obdachlose zählte das US-Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung im Januar 2014 im ganzen Land. Doch die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen, Amnesty International ging 2011 von bis zu 3,5 Millionen Betroffenen landesweit aus, was knapp einem Prozent der US-Bevölkerung entspricht. Während sie zur Weihnachtszeit vermutlich mit mehr Spenden rechnen können, bleibt Obdachlosigkeit eines der drängendsten Probleme in den Vereinigten Staaten: 46,7 Millionen Menschen leben landesweit in Armut.
Ein Teufelskreis aus Drogen und Gangs
Als „Konzentrationslager ohne Mauern“ beschreibt Polizist Deon Joseph den berüchtigten Stadtteil Skid Row im Herzen von Los Angeles. 2000 bis 11 000 Obdachlose leben hier auf 54 Straßenblocks. Inmitten eines „Basars für Drogen“ müssten die Leute versuchen, ihre Sucht hinter sich zu lassen. „Methamphetamin, Crack oder Spice: Stellen Sie sich vor, was das mit jemandem anstellt, der psychische Probleme hat.“ Weil Gangs wie Crips oder Bloods sowie Zuhälter die Obdachlosen erpressen, wird vielen der Ausweg aus dem Teufelskreis unmöglich gemacht. „Jeder Block von Skid Row wird von irgendeiner Gang aus dem südlichen L.A. kontrolliert“, sagt Joseph.
Seit 17 Jahren ist der kräftige Afroamerikaner in dem Problemviertel unterwegs. Die Obdachlosen grüßen ihn mit Vornamen, längst wird er als „Engels-Cop“ betitelt. „Einige Leute wollen sich nicht die Hände schmutzig machen“, sagt Joseph der Deutschen Presse-Agentur. „Einige unserer Beamten haben sich schon mit Staphylokokken infiziert, andere kamen mit der Krätze oder Läusen zurück.“ Erst schrecke die Arbeit ab. „Doch irgendwann musst du sagen, dieser Gemeinde diene ich“, sagt Joseph. „Lass mich Handschuhe anlegen, rausgehen und es anpacken.“
Auch am anderen Ende der Vereinigten Staaten kämpfen Helfer gegen den Sog der Straße. In der Millionenmetropole New York ist die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Sie liegt inzwischen über der aller anderen US-Städte und so hoch, wie seit der schweren Wirtschaftskrise der 1930er Jahre nicht mehr. Fast jeder fünfte Obdachlose lebt Behördenangaben zufolge in New York oder Los Angeles, danach folgen Las Vegas, Seattle und San Diego.
Fast 60 000 Menschen schlafen nach Angaben von Hilfsorganisationen jede Nacht in einer Obdachlosenunterkunft in New York, mehr als ein Drittel von ihnen sind Kinder. Dazu kommen wohl viele Tausend weitere Obdachlose auf den Straßen, deren Zahl sich schwer schätzen lässt. Fast 60 Prozent der Obdachlosen halten sich in Manhattan auf. Knapp 90 Prozent haben afroamerikanische oder lateinamerikanische Wurzeln.
Lesen Sie im nächsten Abschnitt mehr über die Reaktionen der Politik auf die Armutsproblematik
Extremer Wohnungsmagel verschärft Problematik
Grund für den starken Anstieg ist Experten zufolge vor allem der extreme Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Dabei war der demokratische Bürgermeister Bill de Blasio vor zwei Jahren mit dem Versprechen angetreten, das Problem zu lösen. „Eine immer weiter zunehmende Obdachlosigkeit ist nicht akzeptabel für die Zukunft von New York“, hatte er gesagt. „Unter unserer Aufsicht wird das nicht passieren.“
Aber außer einigen Hundert zusätzlichen Betten in Notunterkünften kam von de Blasio bislang wenig und schon gar kein Masterplan zur Lösung des Problems. Hilfsorganisationen sind enttäuscht. „Das wird eine große, komplizierte Anstrengung“, musste de Blasio jüngst zugeben.
Und nun sorgt auch noch eine App für Diskussionen. Mit „Map the Homeless“, entwickelt von einem jungen Ingenieur aus Manhattan, sollen die Bewohner der Millionenmetropole die Aufenthaltsorte von Obdachlosen dokumentieren, am besten gleich mit Foto und etwaigen Vergehen wie aggressivem Verhalten oder Urinieren in der Öffentlichkeit. Das soll die lokalen Behörden dazu bringen, sich des Problems anzunehmen. In Wirklichkeit aber diskriminiere die App die Obdachlosen, kritisieren Hilfsorganisationen.
Täglich sind Helfer im Einsatz, um dem Hunger, der Kälte, dem Leid etwas entgegenzusetzen. „Das einzige Gegenmittel ist ein Zuhause“, sagt Philip Mangano, ehemaliger Direktor der US-Obdachlosenbehörde USICH. „Wenn Sie Obdachlose fragen, was sie eigentlich wollen, fragen diese nie nach einer Pille, einem Programm oder einem Protokoll. Sie fragen nach einem Platz, einem Platz zum Leben.“ (dpa)

