Worte von Andreas Montag Worte von Andreas Montag: Sehr geehrter Herr Schorlemmer

Halle (Saale)/MZ. - Das löst erwartungsgemäß öffentliche Reaktionen aus, darunter nun meine. Insofern haben Sie Ihr Ziel erreicht. Aber um welchen Preis: Sie haben Ihre Mitbürger aufgerufen, zum Hammer zu greifen wider die Moderne, welch eine Tat!
Eine Offenbarung
Ich bin Ihnen regelrecht dankbar für diese Anstiftung, weil sie auch und vor allem eine Offenbarung ist hinsichtlich Ihrer Denkungsart. Aber es tut auch weh. Denn es ist schon bemerkenswert, wenn ein Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels nicht nur zum Unfrieden aufruft (was wegen eines faulen Zustandes, den nur wenige erst erkannt haben, aus äußersten Gewissensgründen nötig sein könnte), sondern an etwas Amorphes, Gestaltloses, aber aus einem diffusen Gefühl des Zurückgesetzt-Seins traditionell auch zu Gewalt Neigendes appelliert: an ein "gesundes Volksempfinden" und die Ausgrenzung des Fremden. Für die Rolle eines Propagandisten in dieser Angelegenheit fühlen Sie sich offenbar nicht ungeeignet. Das tut mir leid für Sie. Und für mich, denn ich habe Ihnen mehr zugetraut als Ressentiments.
Jenseits der Eitelkeit (und um die scheint es zu gehen im Kern dessen, was Sie namens einer von Ihnen summarisch zitierten Öffentlichkeit ins Feld führen) bleibt aber etwas anderes zu besprechen, das noch wichtiger und folgenreicher ist: In welcher Gesellschaft, mit welchen Gedanken - und mit welchen Bauten, mit welcher Kunst wollen wir leben? Und in welche Zukunft sollen unsere Kinder und Kindeskinder entlassen werden?
Soll es ein geschichts- und gesichtsloses, aber urgemütliches Auenland sein, in dem der deutsche Michel als kleiner Hobbit seine verlorene Unschuld wieder findet? Ein Disneyland aus Renaissance, Barock und 19. Jahrhundert - so, als wäre uns die jüngere Vergangenheit nie passiert?
Erinnerung an Pussy Riot
Herr Schorlemmer, Sie haben einst in der ostdeutschen Diktatur Courage und Verstand bewiesen. Es fällt mir schwer, Sie als einen Reaktionär zu sehen, der Menschen gegen das Offene in Stellung bringen will. Allerdings haben mir schon Ihre Einlassungen zur Diskussion um die Musikerinnen der russischen Punk-Band Pussy Riot Zweifel aufgegeben.
Diese Frauen haben nichts Unwürdiges getan, sondern sich ähnlich tapfer (und Bürger wie Machthaber erschreckend) verhalten wie der mutige Anarchist und große Dichter Erich Mühsam. Den haben die Nationalsozialisten 1934 im Konzentrationslager Oranienburg umgebracht.
Was das mit Architektur und Moderne zu tun hat? Sehr, sehr viel. Wer das Neue (das nicht immer das Gute, Unwiderrufliche sein wird) nicht wenigstens für möglich halten will, bewegt sich in einer Denkwelt, die mir nicht nur fremd ist, sondern auch Angst macht.
Das wollte ich Ihnen sagen. Und dies noch: Wer seine Popularität als Pfand einsetzt, muss wissen, dass er auch in Haftung genommen werden kann.
In diesem Sinne grüßt Sie
Andreas Montag