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"Wir wollen raus!" "Wir wollen raus!": Wie die März-Demos in Leipzigdas Ende der DDR beschleunigten

Von Alexander Schierholz 13.03.2019, 11:00
Unbehelligt von der Polizei: Ausreisewillige ziehen am 13. März 1989 durch die Leipziger Innenstadt, geschützt durch die Anwesenheit westlicher Journalisten.
Unbehelligt von der Polizei: Ausreisewillige ziehen am 13. März 1989 durch die Leipziger Innenstadt, geschützt durch die Anwesenheit westlicher Journalisten. Bundesbildarchiv

Etwas ist anders an diesem 13. März 1989. Wie immer versammeln sich die Menschen nach dem montäglichen Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche auf dem Kirchhof, um eine Kundgebung abzuhalten. Doch mehr als 500 von ihnen bleiben diesmal nicht stehen. Sie ziehen los, durch die Grimmaische Straße bis zum Marktplatz.

Die meisten von ihnen wollen die DDR verlassen, sie haben einen Ausreiseantrag gestellt. Sie rufen: „Wir wollen raus, wir wollen raus!“

Die Polizei greift nicht ein. Die Beamten sind nicht die einzigen Zuschauer. Es ist Frühjahrsmesse in Leipzig, die DDR will sich als guter Geschäftspartner inszenieren. West-Journalisten sind in der Stadt, sie filmen die Demo. Abends laufen die Bilder bei ARD und ZDF in den Nachrichten. Öffentlichkeit als Schutz vor staatlicher Repression.

Bilder von Leipziger Demo am 13. März 1989 im Westfernsehen

„Das war eine neue Qualität“, sagt Uwe Schwabe rückblickend. Der ehemalige Bürgerrechtler leitet ehrenamtlich das „Archiv Bürgerbewegung“, das Material über den Leipziger Wendeherbst sammelt. Zeitzeugen wie Schwabe messen dem 13. März 1989 große Bedeutung für die friedliche Revolution bei. Zwar demonstrierten schon seit 1987 Ausreisewillige während der Messe.

Und seit 1988 gab es die montäglichen Kundgebungen auf dem Nikolaikirchhof. „Aber erstmals sind die Menschen weiter bis zum Markt gezogen, und die Polizei hat sie gewähren lassen“, sagt Schwabe. „Und es waren mehr als sonst.“ Nach der Sommerpause werden die Demonstrationen fortgesetzt; nicht mehr nur Menschen, die die DDR verlassen wollen, gehen auf die Straße. Am 9. Oktober 1989 ziehen 70.000 erstmals um den Leipziger Ring. Vier Wochen später fällt die Mauer.

Das kann im Frühjahr 1989 noch niemand ahnen. Doch den Behörden schwant nach der Demo am 13. März und den Bildern davon im Westfernsehen offenbar, dass ihnen die Situation entgleitet. In den Ämtern der Republik stapeln sich Ende 1988 mehr als 100.000 Ausreiseanträge, allein im Bezirk Leipzig sind es 11.000.

Staatssicherheit reagiert mit „Aktion Auslese“ auf März-Demonstration

Dort reagiert die Staatssicherheit auf die März-Demonstration mit der „Aktion Auslese“: Bis zum Sommer sollen 4.000 Ausreisewillige das Land verlassen dürfen, ihre Anträge rasch bearbeitet werden. Mit anderen Worten: Die Querulanten, in den Augen des Staates, sollen rausgeworfen werden.

Es ist der Versuch, Druck aus dem Kessel zu nehmen. „Man hatte gedacht, damit Ruhe ins Land zu bringen“, sagt Schwabe. Doch es kommt anders. Nach dem 13. März steigt die Zahl der Ausreiseanträge weiter, und auch die Zahl derer, die montags zum Friedensgebet in die Nikolaikirche kommen. Viele von ihnen erhoffen sich davon, ihre Ausreise zu beschleunigen.

Die Berichte im westdeutschen Fernsehen sorgen zusätzlich für Mobilisierung, so sieht es Schwabe. „Das war eine Masse, die der Staat, anders als die Oppositionsgruppen, nicht mehr wegreden konnte“, sagt er. „Das war innerer Sprengstoff.“

„Die Ausreisewilligen haben den Untergang der DDR beschleunigt.“

Gotthard Weidel ist überzeugt: „Die Ausreisewilligen haben den Untergang der DDR beschleunigt.“ Ein villenartiges Mehrfamilienhaus in Leipzig-Gohlis, ein Vorgarten. Weidel, 71, sitzt in seinem Arbeitszimmer. Ein wandhohes Bücherregal, ein Fernseher, ein Schreibtisch. Als die Demonstranten vor 30 Jahren von der Nikolaikirche zum Markt zogen, begleitet von West-Kameras, war der Theologe Pfarrer an der Friedenskirche in Gohlis.

Unter dem Dach seiner Gemeinde treffen sich damals regelmäßig Menschen, die die DDR verlassen wollen. Weidel hat ihnen schon 1988 einen Raum in der Sakristei gegeben. Einmal im Monat kommen sie zusammen, 30 bis 50 Leute, für mehr reicht der Platz nicht. Sie tauschen sich aus, geben sich Tipps und Trost. Und sie finden in den Kirchenleuten Menschen, die ihnen zuhören. „Hoffnung“ heißt die Gruppe.

Es sind Menschen, die an ihrer Arbeitsstelle isoliert werden, sobald sie einen Ausreiseantrag gestellt haben. Falls sie nicht gleich ihren Job verlieren. Die alle paar Wochen aufs Amt müssen, um nach dem Stand der Dinge zu fragen. Manche warten jahrelang auf ihre Ausreise. „Die Menschen haben ihr Recht in Anspruch genommen, über ihr Leben selbst zu bestimmen“, sagt der Pfarrer. „Heute ist das selbstverständlich, damals hat der Staat repressiv reagiert.“

Arbeiter, Ärzte, Ingenieure hinterlassen spürbare Lücken in der DDR

Weidel erinnert sich an den Lehrer, dem er nach dem Antrag auf Ausreise einen Hausmeister-Job in seiner Gemeinde gibt. An die Familie, die plötzlich ihre ideologisch-politische Heimat verliert. Er SED-Mitglied, Lokführer im Tagebau, sie Sekretärin beim Rat des Bezirkes. Menschen, die in der DDR ihren Platz gefunden haben, so scheint es.

Doch dann, so erzählt der Pfarrer es, wird dem Mann ein Besuch seiner todkranken Mutter im Westen verwehrt. Es ist der Punkt, an dem für die Familie eine Welt zusammenbricht - auch sie beantragt die Ausreise.

In Weidels Gemeinde kommen Menschen aus allen Schichten, die die DDR nicht mehr als ihr Land betrachten: Arbeiter, Ärzte, Ingenieure. Die Lücken, die sie hinterlassen, werden im Laufe des Jahres 1989 immer deutlicher spürbar. Das Land blutet aus. Medizinstudenten im letzten Semester werden in die Polikliniken geschickt, um die medizinische Grundversorgung aufrechtzuerhalten. Soldaten müssen Straßenbahnen steuern, damit der öffentliche Nahverkehr nicht zusammenbricht.

Als die DDR-Flüchtlinge aus der Prager Botschaft Ende September mit Sonderzügen in die Bundesrepublik ausreisen dürfen, schreibt das SED-Parteiblatt „Neues Deutschland“ über die Menschen: „Man sollte ihnen ... keine Träne nachweinen.“ Für Pfarrer Weidel ist das noch heute ein Beleg für den Zustand des Systems DDR: „Das zeigt doch, wie krank diese Gesellschaft war.“

Leipziger Messe: Podium für Propaganda und Proteste

In der DDR fand die Leipziger Messe zweimal im Jahr statt, im Frühjahr und im Herbst. Ausländische Aussteller, Besucher und Journalisten - für den Staat war das die Gelegenheit zur Selbstdarstellung, für ausreisewillige Demonstranten die Möglichkeit, die Weltöffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen, besonders am 13. März 1989.

Mit den Ereignissen vor 30 Jahren beschäftigt sich eine Gesprächsrunde an diesem Mittwoch in der Leipziger Stasi-Gedenkstätte „Runde Ecke“. Auf dem Podium sitzen neben dem damaligen Gohliser Pfarrer Gotthard Weidel mit Olaf Jäger und Jens Nietzschmann zwei Leipziger, die damals ihre Ausreise beantragt und sich an der Demo am 13. März beteiligt hatten. Hans-Jürgen Börner, seinerzeit Korrespondent für die ARD, komplettiert die Runde. Zu Beginn werden Ausschnitte aus den damaligen Nachrichtensendungen von ARD und ZDF gezeigt. Der Eintritt ist frei.

13. März, 19 Uhr, ehemaliger Kinosaal in der Gedenkstätte „Runde Ecke“, Dittrichring 24, Leipzig