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Wilfried Poßner Wilfried Poßner: Der letzte Pionier

Von Steffen Könau 31.05.2014, 16:37
Wilfried Poßner unerkannt in Wittenberg: Die Elbestadt ist dem studierten Pädagogen zur zweiten Heimat geworden, hier ist er bis heute in der Erwachsenenbildung tätig.
Wilfried Poßner unerkannt in Wittenberg: Die Elbestadt ist dem studierten Pädagogen zur zweiten Heimat geworden, hier ist er bis heute in der Erwachsenenbildung tätig. andreas stedtler Lizenz

Halle (Saale)/MZ - Der Bart stößt den führenden Genossen sofort böse auf. Wilfried Poßner, Sohn einer Arbeiterfamilie aus Neustadt an der Orla, gelernter Maurer und studierter Lehrer, ist in jenem Jahr 1985, in dem die DDR sich noch auf der Seite der Sieger der Geschichte wähnt, zum Vorsitzenden der Pionierorganisation ernannt worden. Poßner ist Mitte 30, ein großer Mann mit Schnurrbart, wie ihn Tom Selleck in der US-Serie „Magnum“ trägt. „Sofort hieß es, das sei für einen Repräsentanten der Republik kein Auftreten.“

Drei Jahrzehnte später hat Poßner seinen Bart allerdings immer noch, wenn er auch ein wenig grau geworden ist. Das Haar des letzten Chefs der Pionierorganisation, die sich selbst „Ernst Thälmann“ nannte, ist dafür länger und im linken Ohr steckt dem 64-Jährigen ein kleiner Ring. Poßner sieht nicht jünger aus als auf den Bildern aus den letzten Tagen der DDR, die ihn als FDJ-Mann am Runden Tisch zeigen, kurz bevor seine politische Karriere abrupt enden wird. Aber viel älter geworden ist er auch nicht, der Mann, der sagt, er habe im Herbst 1989 geahnt, dass es für die Reformen, über die eine kleine Gruppe an der Spitze der FDJ immer wieder gesprochen hatte, längst zu spät geworden war.

Auf dem Weg nach oben

Wilfried Poßner ist aus der Öffentlichkeit verschwunden. Er hat versucht, den Kapitalismus so zu leben, wie er ihn an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften gelernt hatte. Das Oberhaupt von zwei Millionen jungen Pionieren ging in die Erwachsenenbildung, er wurde Unternehmer, er war erfolgreich und nach dem Absturz, der auch ein privater gewesen war, schon wieder auf dem Weg nach oben.

„Aber dann stellte sich heraus, dass die richtigen Kapitalisten eben doch gewiefter sind.“ Das florierende Bildungsunternehmen mit Sitz in Wittenberg, das Poßner von einem Unternehmer aus Hessen gekauft hatte, entpuppt sich nach einer Änderung der Förderrichtlinien als Laden, der nicht annähernd genug Geld verdient, um die Raten für den Kauf zu bezahlen. Als dann auch noch ein Fernsehteam Machenschaften des früheren Besitzers enthüllt und das Arbeitsamt daraufhin vor der Zusammenarbeit mit den neuen warnt, ist es vorbei. „Wir waren pleite“, sagt Wilfried Poßner.

Ideologischer Bankrott gefolgt von Privatinsolvenz

Eine späte Vollbremsung. Auf einen Schlag holt den Mann, der den Neustart im neuen System bis dahin ohne Probleme bewältigt zu haben glaubte, die ganze Vergangenheit ein. Poßner, der von sich bis heute sagt, er habe sich ehrlichen Herzens und voller Überzeugung für die DDR eingesetzt, steht vor den Trümmern seines Lebens in zwei Welten. Dem ideologischen Bankrott der sozialistischen Idee, den er als Mitglied von ZK der SED und Volkskammer schon Jahre vor dem Mauerfall herannahen fühlte, folgt die bittere Privatinsolvenz.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Poßner sich auf die Suche nach den Gründen für das Scheitern des Sozialismus begibt.

Ausgerechnet ein Marschall der Sowjetunion hat Wilfried Poßner dann gerettet. Michail Tuchatschewski war Stalins bester Mann, ein roter Napoleon aus altem Adel, der im I. Weltkrieg für den Zaren kämpft, in deutsche Gefangenschaft gerät, flüchtet, auf die Seite der Revolution wechselt und später die Rote Armee aufbaut. Der Name Tuchatschewski ist Poßner zu DDR-Zeiten nie begegnet, denn der Sieger zahlloser Schlachten, nebenher Kulturliebhaber und Frauenliebling, war im Mai 1936 auf Befehl Stalins wegen „Spionage für eine fremde Macht“ verhaftet, gefoltert und im Hof der berüchtigten Lubljanka hingerichtet worden. Ein Schicksal, auf das Poßner erst durch eine kleine Zeitungsmeldung aufmerksam wurde. „Das hat mich sofort fasziniert“, sagt er, „denn hier finden sich schon viele Hinweise darauf, warum unser ganzes System am Ende wie ein Kartenhaus eingestürzt ist.“

Geburtsfehler Stalinismus

Wilfried Poßner sagt immer noch unser. Er hat sich dem Marschall auf seine Weise genähert: „Wenn die Sterne untergehen“ heißt der Roman, den er nach Motiven aus Tuchatschewskis Biografie geschrieben hat. Ein Buch, das an Robert Harris erinnert. Poßner webt Realität und Fiktion zusammen, verfolgt dabei aber immer sein Ziel, den Gründen nachzuspüren, die den Sozialismus so rasch und widerstandslos scheitern ließen. Der Stalinismus sei der Geburtsfehler gewesen, den auch die DDR nie losgeworden sei. „Natürlich ist der Terror nicht in dem Maße übernommen worden, aber das Reduzieren der Macht auf eine Person, das war ein Krebsschaden.“

Wilfried Poßner hat es aus nächster Nähe erlebt. Obgleich er die Engstirnigkeit in der Ablehnung etwa von Rockmusik als junger Beatlesfan selbst erfahren hat, ist er als Funktionär später gezwungen, Positionen zu verteidigen, die er für unsinnig hält. Aus dem Inneren heraus habe er verändern wollen, die Pionierorganisation lockerer machen, lebensnäher. Schon dabei kreuzen seine Pläne immer wieder die von Bildungsministerin Margot Honecker, die es straff mag, diszipliniert und zentralisiert. Der Gewinner steht vorher fest und er heißt nicht Poßner.

Keiner handelte

Der kann die Diskrepanz zwischen Realität und Parteiparolen irgendwann nicht mehr ausblenden. „Ich wusste, es funktioniert nicht mehr.“ Aber was tun? „Wir haben schon darüber geredet, was passieren müsste“, erinnert er sich an Gespräche unter den jüngeren Mitgliedern der Führungsspitze, „aber das Handeln haben wir auf später verschoben.“ Schließlich sei Honecker nicht nur Generalsekretär gewesen, sondern auch Widerstandskämpfer. An einen Aufstand gegen die alten Männer habe niemand gedacht. Es reicht gerade zu anderen Einschätzungen, einer realistischeren Standortbestimmung. „Und die wurde dann auch gleich kräftig abgebügelt.“ Egon Krenz sei für die Jüngeren im Apparat ein Hoffnungsträger gewesen, gleichzeitig aber habe Einigkeit geherrscht, dass eine biologische Lösung den personellen Wechsel herbeiführen müsse. „Heute sage ich: ein Fehler“, nickt Wilfried Poßner.

Ein wenig mag es die Angst vor Alternativen gewesen sein, die die Jüngeren in Staats- und Parteispitze am Handeln hinderte. Ein wenig aber war es sicher auch die Furcht vor der Rache der Altvorderen, die Krenz, Poßner oder FDJ-Chef Aurich hinderten, Reformen zu verlangen, so lange sie theoretisch denkbar waren. Ohne Tuchatschewski zu kennen, hatte die Generation Poßner ihre Lektion Stalin gelernt.

"Widerspruch äußerlich sichtbar"

Dass es zu spät ist, um noch etwas zu ändern, wird Wilfred Poßner erst am Abend des 7. Oktober 1989 richtig klar. Die vermeintlich treuesten FDJler des Landes ziehen zum Republikgeburtstag an der Parteispitze vorbei und aus ihrer Mitte erschallt der Ruf nach „Gorbi“. Stasi-Chef Erich Mielke ist stinksauer, Staatschef Erich Honecker fühlt sich verraten. „Da war Widerspruch äußerlich sichtbar“, sagt Wilfried Poßner, „das waren unsere Jugendlichen, das ließ sich nicht mehr wegdiskutieren.“ Doch hinter der Glasfassade des Palastes der Republik gehen die Uhren immer noch anders: „Es hieß einfach, wir hätten das verhindern müssen.“

Noch in derselben Nacht hat Wilfried Poßner einen Brief an Egon Krenz geschrieben. Das Maß ist voll, es muss gehandelt werden, steht da. Danach hat er gewartet, was nun passiert. Zum ersten Mal, sagt er, habe er gespürt, dass er tief beunruhigt war. „Es war ja noch nicht klar, ob geschossen wird.“ Kommen sie ihn holen? Wird das, was er als konstruktive Kritik gemeint hat, als Verrat gewertet werden?

Wilfried Poßner hat Glück. Der Herbst ’89 ist nicht das Frühjahr ’36, die DDR nicht Stalins Sowjetunion. Zehn Tage nach seinem Brief tritt Honecker zurück und Poßner nimmt am Runden Tisch Platz. Hier tragen viele Bart, nur der letzte Pionier passt trotzdem nicht in die Runde. Die Zeit hat Wilfried Poßner überholt. Was eben noch mutig war, sieht jetzt nur noch zaghaft aus. Poßner hadert heute nicht mehr. „Wer Tuchatschewskis Leben anschaut“, sagt er, „sieht ja, dass es schon viel früher viel zu spät war.“

Pionierchef Wilfried Poßner (l.) im Außeneinsatz.
Pionierchef Wilfried Poßner (l.) im Außeneinsatz.
Bundesarchiv Lizenz