Weite Schulwege in Sachsen-Anhalt Weite Schulwege in Sachsen-Anhalt: 5 Uhr - die Schule wartet!

Jessen/MZ - Der Morgen graut. Ein Hahn kräht. Sonst ist es noch ganz still in Schützberg (Landkreis Wittenberg). Jetzt muss der sechsjährige Henrik Korb aufstehen. Sonst kommt der Junge aus der Elbaue zwischen Wittenberg und Jessen zu spät zur Schule. Um 5 Uhr klingelt der Wecker. Weil der Schulanfänger noch tief schläft, muss die Mutter ihn wachrütteln. „Henrik, aufstehen, die Schule wartet!“ Waschen, Zähneputzen, Frühstücken.
Nadine Korb, die im Dorf einen Friseurladen betreibt, muss ihrem Sohn schon Beine machen. „Bummeln ist nicht, sonst ist der Bus weg.“ Wenige Minuten vor 6 Uhr verlässt Henrik mit der schweren Schultasche auf dem Rücken das Haus. Es dämmert. Gleich schalten sich die Lampen an der Hauptstraße ab. Dafür leuchtet der Mond über dem Kirchturm.
6.07 Uhr - die Tour beginnt
Auf dem Weg zur Haltestelle begegnet Henrik anderen Kindern, darunter die zehnjährigen Drillinge von Familie Betke: Laura, Diana und Lucas. Auch sie wollen mit dem Schulbus in die Stadt, nach Jessen. Dort gibt es neben der Grundschule auch ein Gymnasium und eine Sekundarschule.
Wenn niemand verschläft oder krank ist, steigen sieben Kinder aus Schützberg in den Bus. Heute kommt er sogar etwas früher als sonst. Tickets müssen die Schüler nicht zeigen. Am Steuer sitzt Horst Prinz. Auf seiner Stammstrecke kennt er alle, die um diese Zeit mit ihm fahren. Punkt 6.07 Uhr, auf die Minute genau, beginnt die Tour über die Dörfer - der Morgensonne entgegen.
Prinz: „Anfangs sind die Schüler oft noch sehr müde und ziemlich maulfaul.“ Die Kleinen, scheint es, träumen einfach noch etwas. Die Älteren spielen mit ihren Handys. Niemand blättert in einem Mathematik-Buch oder liest in seinem Deutsch-Hefter.
Haltestangen-Klettern und Rehe zählen
Spätestens in der Ortschaft Mauken, als eine große Kinderschar den Bus erobert, ist es mit der Schläfrigkeit vorbei. Übermütige nutzen - jetzt zwischen Rade und Battin - die Haltestangen für Kletterübungen. Da tritt der Fahrer spürbar auf die Bremse und spricht ein Machtwort. Es wird akzeptiert. Später, der Bus rollt bereits in Richtung Grabo, zeigt Prinz auf den asphaltierten Radweg neben der Straße. Ihn würden aber nur wenige Schüler nutzen. Erst zwei Drittel der Tour sind geschafft. Etliche Kinder müssen jetzt stehen.
Inzwischen haben einige einen Zeitvertreib für sich entdeckt: Rehe zählen. Man muss nicht lange suchen, um die Tiere zu entdecken. In kleinen Rudeln äsen sie in der Morgensonne, links und rechts der hier kurvenreiche Straße. Trotzdem, der Rekord aus dem Herbst bleibt an diesem Morgen unerreicht: 40 Tiere.
Seltsam, plötzlich erinnert sich Laura Betke an den letzten Winter. Einmal sei der Bus auf freier Strecke bei Glätte schräg in den Straßengraben gerutscht. Erst mit Hilfe eines schweren Traktors habe man ihn wieder flott machen können.
Drei Stunden Wegezeit pro Tag
Weite Schulwege sind in einem Flächenland wie Sachsen-Anhalt nicht die Ausnahme. Und mit jeder Schule, die schließt, erhöhen sich die Entfernungen. Mindestens 75 der momentan noch 499 Grundschulen droht nach den Planspielen des Kultusministerium über kurz oder lang das Aus. So oder so, von allen Schülern des Landes sind die Schützberger Kinder am längsten unterwegs. Von Tür zu Tür dauert ihre Tour jeweils rund eineinhalb Stunden, manchmal und mit Wartezeiten auch länger. 90 Minuten hin und zurück - das macht 180 Minuten oder drei Stunden Wegezeit an jedem Tag. Bei 190 Schultagen ergibt das 570 Stunden oder umgerechnet länger als drei Wochen, die die Schützberger in einem einzigen Schuljahr auf Achse sind.
Inge Lindenau, die Urgroßmutter der Betke-Drillinge, ärgert das gewaltig: „Das ist doch vergeudete Lebenszeit“, schimpft sie. Aus ihrer Sicht habe sich die Schule im Laufe ihres Lebens immer mehr vom Dorf entfernt. „Wir Alten lernten hier im Dorf, meine Enkel gingen in den Nachbarort Klöden, vor einigen Jahren folgte dann der Wechsel nach Elster.“ Seit Schützberg mit seinen 140 Einwohnern zur Stadt Jessen gehöre, so Lindenau, müssten die Schüler dorthin fahren.
Nach der Schule "total fertig"
Auf direktem Weg sind es von Schützberg bis Jessen zwölf Kilometer. Die Strecke des Schulbusses jedoch ist gut 28 Kilometer lang - und für die Schüler eine Rundfahrt. Erst an der 18. Station, am Gymnasium, steigen sie aus. Da macht sich Mutter Doreen Nitzsche schon große Sorgen, ob Nick - ihr Jüngster - diese Strapaze als künftiger Schulanfänger wohl auch verkraftet. „Wenn seine Schwester Alida nachmittags aus der Schule heimkommt, ist sie immer total fertig.“ Auch aus dem Grund werben die Schützberger Eltern für ein anderes Konzept des Schülerverkehrs.
So gibt es seit langem den Vorschlag, auf den einen großen Bus zu verzichten, der die Kinder aus allen Dörfern einsammelt. Statt dessen könnten mehrere Kleinbusse - ähnlich einer Sternfahrt - aus verschiedenen Richtungen direkt zur Schule fahren.
Gute Erfahrungen mit Kleinbussen
Ob die Kosten damit ansteigen würden, ist noch unklar. Die dafür erforderliche Kalkulation steht aus. Allerdings prüfen das Magdeburger Verkehrsministerium und das Finanzministerium grundsätzlich solche Überlegungen. Zumindest in einigen skandinavischen Ländern, so Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD), habe man mit Kleinbussen bei der Schülerbeförderung schon gute Erfahrungen gemacht.
Das ist vielleicht ein Hoffnungsschimmer für die Schützberger Kinder. Dann könnten sie eine Stunde länger im Bett bleiben und kämen ausgeschlafen zur Schule. Da sind sich die Betke-Drillinge einig: „Das wäre super.“
