Vor Ort in Leipzig Vor Ort in Leipzig: Gänsehaut im Lichtermeer

LEIPZIG/MZ. - 25000 Kerzen, geformtzu einem Schriftzug "Leipzig 89". Kerzen,die ein Gänsehaut-Gefühl erzeugen. Weil siefür ein Ereignis stehen, das die deutscheGeschichte verändert hat. Es war der 9. Oktober1989, als 70000 Menschen in Leipzig auf dieStraße gingen, um für Demokratie und Freiheitzu demonstrieren. Trotz aller Angst, trotzder rund 8000 Polizisten und Soldaten, denensich die Demonstranten mit dem Ruf "Wir sinddas Volk" entgegenstellten.
20 Jahre später verwandelt sich der LeipzigerAugustusplatz in eine unglaubliche, eine riesigeMenschentraube. In eine Menge, die bewegtden Worten der Bürgerrechtlerin lauscht, dieden 9. Oktober 1989 noch im Gefängnis verbringenmusste. Die den Ex-Außenminister Hans-DietrichGenscher beinahe derartig begeistert bejubeltwie einst die Flüchtlinge in der Prager Botschaft,denen er die Ausreise verkündete.
Der Gedenktag beginnt am Vormittag miteinem Festakt. Politiker und Zeitzeugen würdigenden Mut derer, die sich vor 20 Jahren mitder Forderung nach Demokratie auf die Straßenwagten. Der Blick in die ersten beiden Reihenim Gewandhaus trifft auf bekannte Gesichterder Wende-Zeit: Ex-Außenminister Hans-DietrichGenscher, die Pfarrer Friedrich Schorlemmerund Christian Führer. Die Bürgerrechtler WolfgangThierse, Markus Meckel und Werner Schulz sitzendort. Auch Wolf Biermann ist da.
Vor dem Gewandhaus scharen sich die Leipzigeran diesem Tag um die gerade eingeweihte "Glockeder Demokratie". Und wieder ist es natürlichdie Nikolaikirche, in die es die Menschenzum Friedensgebet zieht. Der Ort, von demeinst die Demonstrationen ausgingen. Der LeipzigerHelmut Loewe (65) war damals dabei. "Wir hattenAngst, weil wir nicht wussten, was passiert",erinnert er sich. Heute steht er vor der Kirche,plaudert mit Bundespräsident Horst Köhler,der außerhalb des Protokolls ein Bad in derMenge nimmt. "Phantastisch."
Die Nikolaikirche ist auch der Ort, an demdie Menschen aufbrechen zum letzten, dem eigentlichenHöhepunkt der Revolutionsfeier - dem Lichterfest.Wieder ziehen sie durch den Leipziger Innenstadtring,der mit den Menschenmassen diesmal schlichtwegüberfordert ist. "Anstehen für die Freiheit,wer hätte das gedacht", schreibt ein Teilnehmerper SMS eine Botschaft, die über Leinwandauf dem Augustusplatz zu sehen ist. "Damalswaren es weniger", stellt ein anderer fest.Meter für Meter, nur langsam schiebt sichder Zug diesmal vorbei an 20 Stationen, andenen Künstler aus ganz Europa mit Licht-,Audio- und Videoinstallationen den Herbst1989 emotional wiederbeleben. Es gehe nichtdarum, "Demonstration zu spielen", sagt MaritSchulz vom Stadtmarketing, sondern darum,die Erinnerung mit Mitteln der Kunst wachzuhalten.Erinnerungen, so betont OberbürgermeisterBurkhard Jung (SPD), an denen auch junge Menschenteilhaben.
Menschen wie Christoph Weber aus Bad Lauchstädtbei Halle. "Ich war damals neun Jahre alt.Von den Demonstrationen habe ich nichts mitbekommen",sagt er. Diesmal aber ist er dabei, mit einemblauen Robur, der sonst auf den Feldern umHalle fährt. Er ist Teil des "Schall-Bollwerkes",eines Projekts des Leipziger Künstlers TillExit. "Die damals im Leipziger Stadtfunk voneinem solchen Wagen übertragenen Reden wareneiner der letzten hilflosen Versuche, dieUmwälzung aufzuhalten", sagt Exit.
Es sind eindrucksvolle Bilder, die die Menschensehen. Schlagzeilen der DDR-Presse auf Wohnhäuserprojiziert, menschliche Silhouetten auf dieReformierte Kirche. Suchscheinwerfer auf demGeorgiring, die das Gefühl von damals angesichtseines bestehenden Schießbefehls aufarbeiten.Und: Ein Konfettiregen an der ehemaligen Stasizentrale.50000 Karten, die Via Lewandowsky auf dieStraße regnen lässt - auf jedem der Decknameund der Beruf eines Spitzels. Sie sollen daranerinnern, sagt der Künstler, dass die DDReben kein "nettes, um seine Bürger bemühtesLand" war.
Der 9. Oktober 2009 ist aber auch ein Tag,an dem die Menschen nach vorn schauen. "Wirgehen weiter!" heißt es auf einem Faltblattder "Stiftung Friedliche Revolution". Zigtausendesind es an diesem Abend. Und auf der Leinwandam Augustusplatz erscheint eine weitere Botschaft:"Da heißt es immer, dass in Deutschland niemandmehr für Demokratie und Freiheit auf die Straßegeht. Leipzig macht es wieder vor!"
