Vor 40 Jahren Vor 40 Jahren: Totentanz im Kirchenschiff
Leipzig/MZ. - Die Erinnerungen an jene Tage und Nächte im Mai 1968 muss Winfried Krause nicht mühsam hervorkramen. Sie verfolgen ihn regelmäßig in seinen Träumen. "Immer wieder sehe ich die Toten vor mir", sagt er in die Stille seines Wohnzimmers. "Und gestunken hat es, ganz furchtbar gestunken."
Es ist der 23. Mai 1968, als der damals 26-Jährige von seinem Betrieb abkommandiert wird zu einem Sondereinsatz: Die Unikirche St. Pauli muss geräumt werden, wenige Tage später soll sie gesprengt werden. In Bussen mit verhangenen Scheiben werden rund 30 Arbeiter aus ganz Leipzig in eine Baracke im Süden der Stadt gebracht. Sie werden fotografiert und ärztlich untersucht. Sie erhalten Sonderausweise, die sie später wieder abgeben müssen. Sie werden vergattert zu schweigen - sonst droht Gefängnis. Und sie erhalten gutes Geld - zehn Mark pro Stunde. "Normal waren 1,65", sagt Krause.
Einen Tag lang räumen die Männer, begleitet von Aufpassern der Stasi, das Gestühl, Epithaphien und Kruzifixe aus der Paulinerkirche. Am zweiten Tag, einem Sonnabend, müssen sie zunächst weiße Kindersärge in die Kirche schaffen. Eine neue Situation: Von Toten ist bisher nicht die Rede gewesen. Steinmetze haben die Grüfte unter dem Fußboden geöffnet. Verwesungsgestank liegt in der Luft.
Was Krause dann berichtet, klingt wie ein Albtraum: Unten in den Grüften klauben Männer Knochen, Kleiderreste und Grabschmuck aus den Sarkophagen, stopfen sie in die Särge. Oben nageln Krause und andere die Deckel drauf, zwei Nägel rechts, zwei links, der Tischler weiß es noch genau. "Wenn Knochen überstanden, hab' ich sie wieder reingeschoben." Bevor sie die Särge verschließen, geben sie den Schmuck an Aufpasser ab. Krause erinnert sich an "goldene Rosen", große verzierte Teller, darauf eingraviert Name, Geburts- und Sterbedatum des Verstorbenen. Es ist eine bestialische Arbeit im Akkord. "Ich habe bestimmt 400 Särge zugenagelt", sagt Krause. Das wäre die Hälfte der nach Expertenschätzungen in der Unikirche Beigesetzten. Über Jahrhunderte diente St. Pauli als Begräbnisstätte für Universitätsangehörige, für Professoren und Honoratioren.
Der Bericht des Winfried Krause klingt unglaublich. "Aber vieles spricht dafür, dass er stimmt", sagt Manfred Wurlitzer. Der Physikdozent im Ruhestand gehört dem Paulinerverein an, der sich jahrelang vergeblich für den Wiederaufbau der Kirche eingesetzt hat. Als Wurlitzer vor einigen Jahren die Geschichte erstmals hört, beginnt er in Archiven zu forschen. Er stößt unter anderem auf eine Notiz, aus der hervorgeht, dass Krause bei "Abbrucharbeiten" in der Paulinerkirche beschäftigt war. Er spricht mit anderen Zeitzeugen, die sich heute aber nicht öffentlich äußern wollen. Die Männer berichten übereinstimmend von Details, von denen sie kaum wissen könnten, wären sie nicht dabei gewesen im Mai 1968. Einige Schilderungen hat Wurlitzer in Archiven belegt gefunden. Etwa die dreistöckigen Grüfte, an die Krause sich erinnert. Oder die Legende von der Grabanlage, die für die Toten aus der Kirche auf dem Leipziger Südfriedhof errichtet werden sollte - so war es den Männern erzählt worden.
Doch auf dem Friedhof sind die sterblichen Überreste nach Auskunft der Stadt nicht beigesetzt. Wo sind sie dann? Mit den Trümmern der Kirche in einer Sandgrube abgekippt? Warum wurden nur zwei Gräber, darunter das des Philosophen Christian Fürchtegott Gellert, umgebettet? Nur einige der Fragen, die noch offen sind. Eine weitere: Wo ist der Grabschmuck? Seine Spur hat sich verloren, während andere Kunstgegenstände aus St. Pauli geborgen wurden - wenn auch längst nicht alle.
Fest steht: Partei- und Staatsführung haben es eilig. Die Sprengung der Unikirche ist lange geplant, die Menschen wissen das. "Es kamen täglich Leute auf den Augustusplatz", erinnert sich Wurlitzer, "viele Studenten protestierten mit Eingaben." Man wollte offenbar verhindern, dass der Widerstand noch zunimmt, deshalb die überstürzte Räumung. "Das war Angst vor der Öffentlichkeit", sagt der 73-Jährige. Hinweise von Fachleuten, die fachgerechte Bergung der Kunstschätze und die Exhumierung brauchten mehr Zeit, werden deshalb in den Wind geschlagen.
Für Tobias Hollitzer "ein Skandal". "Das war alles andere als ein würdiger Umgang mit einem religiös-gesellschaftlichen Ort und mit Toten", sagt der Leiter des Leipziger Stasi-Museums. Weil es keine Spuren mehr gebe, gebe es keine Möglichkeit der Auseinandersetzung. So bleiben den Zeitzeugen nur ihre Erinnerungen - und ihre Träume.