Virtuelle Welt Virtuelle Welt: Die Sucht am Schirm
MAGDEBURG/MZ. - Am Sonnabend, als der Toten des Amoklaufs von Winnenden gedacht wurde, steht in Magdeburg Christian Swertz auf dem Campus der Universität sagt nachdenklich: "Wenn man dieser Logik folgt, müsste man auch die Bibel wegen ihrer blutrünstigen Darstellungen verbieten." Oder Grimms Märchen. Swertz ist Professor für Medienpädagogik an der Uni Wien und nach Magdeburg gekommen, um auf einer internationalen Tagung zu Computerspielen, Spielern und Spielkultur über Spielsucht zu sprechen.
Organisiert hat die Tagung Johannes Fromme, Professor für erziehungswissenschaftliche Medienforschung an der Magdeburger Uni - einen vergleichbaren Studiengang gibt es in Deutschland bislang nicht. Wer Fromme begegnet, trifft auf einen schmalen, freundlichen Mann, der gut als Lehrer in eine Waldorfschule passen würde. Von ihm würde man jedenfalls keine Sätze erwarten wie: "Counterstrike ist ein gut gemachtes Computerspiel." Solche Sätze aber sagt der Wissenschaftler. Counterstrike? Dieser blutrünstige Ego-Shooter, der vom Erfurter Amokläufer Robert Steinhäuser exzessiv gespielt wurde, bevor er 16 Menschen erschoss? "Sehen Sie", sagt Fromme, "eben das stimmt nicht." Ja, Steinhäuser habe Counterstrike gespielt. Aber nur gelegentlich, nicht intensiv. Es sei ein Element in der Katastrophe, nicht das einzige.
Fromme hat sich intensiv mit dem Fall beschäftigt, er wird es auch mit dem Winnender Amoklauf tun. "100 000 Menschen spielen Counterstrike, ohne sich eine Waffe zu besorgen." Der 52-Jährige rät dazu, der Frage nachzugehen, warum es gerade an Schulen zu angedrohten oder tatsächlichen Amokläufen komme - und schiebt eine mögliche Antwort hinterher: "Wir haben noch immer zu viel klassischen Unterricht, zu viel Leistungsdruck, gerade an Gymnasien."
Fromme hält die Debatte um das Verbot von Internet-Gewaltspielen daher für eine, die an der Sache vorbei geht. Natürlich lieferten Medien Handlungsmodelle. "Aber das haben Bücher auch schon getan, das Fernsehen tut es und Computerspiele eben auch", so Fromme. Es sei zutreffend, dass in manchen Computerspielen moralische Grenzen verschoben werden. Was aber kaum wahrgenommen werde: Das Gros der Spieler begegne moralischen Verwerfungen ausgesprochen kritisch. In einer Erweiterung des Online-Spiels "World of Warcraft" etwa sei ein Foltermodus geplant, der von der Spielergemeinde heftig debattiert werde. "Es gibt nicht wenige Spieler, die lehnen das ab. Es gibt ungeschriebene Gesetze, die solche Dinge verbieten."
"Gemeinsames Hobby"
Fromme ist daher kein Freund der Theorie, Computerspiele förderten die Vereinsamung und gesellschaftliche Isolation. "Da treffen sich Leute, die gemeinsam einem Hobby nachgehen. Das ist doch genau das, was wir uns von unseren Kindern wünschen." Niemand käme auf die Idee, dass bei Fußball- oder Handballvereinen absurd zu finden. Wie ein Kapitän oder Trainer einer Fußballmannschaft gebe es bei "World of Warcraft" starke Clan-Leader, die sich um ihr virtuelles Team sorgen und auf diese Weise eben jene soziale Kompetenz erwerben würden, die man "im wahren Leben hervorragend gebrauchen kann" - eine durchaus umstrittene These.
Und was ist mit jenen, die überhaupt nicht mehr aus der virtuellen in die reale Welt zurück finden? Der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer hat jüngst eine Studie vorgelegt, wonach drei Prozent der Jungen und 0,3 Prozent der Mädchen im Alter von 15 Jahren in Deutschland süchtig nach Computerspielen sind. Kinder, die tage- und nächtelang vor dem Bildschirm sitzen, sich nur von Cola, Chips und Pizza ernährten und von der Furcht gelenkt werden, sie würden etwas in ihrem Zweitleben in einer der World-of-Warcraft-Welten verpassen - und dabei den Kontakt zu ihrer wirklichen Welt verlieren.
Entzugssymptome beobachtet
Weil es sich dabei um keine an einen Stoff wie Alkohol oder Heroin gebundene Sucht handelt, tut sich die Wissenschaft schwer mit einer Antwort auf die Frage, ob man tatsächlich von Süchtigen sprechen kann. Fromme hat ein Problem damit, "eine soziale Bindung bereits als Sucht zu bezeichnen". Der Wiener Medienwissenschaftler Swertz antwortet auf die Suchtfrage mit "jein". Allerdings: Die beobachteten Entzugssymptome seien die gleichen - Spiele-Junkies berichten nach dem Ausstieg von körperlichem Unwohlsein. "Auf jeden Fall ist eine Abhängigkeit von solchen Spielen deutlich ernster zu nehmen, als mögliche Gewaltexzesse.
Swertz fordert die Anerkennung der Computerspielsucht als Krankheit. Bislang weigern sich die Krankenkassen, die Therapie zu bezahlen. Doch auch bei der Online-Spielsucht liege das Problem nicht im Spiel, sondern "im wirklichen Leben", so Swertz. Man müsse fragen, was Kinder und Jugendliche dazu treibe, sich völlig in eine virtuelle Welt der Spiele zurückzuziehen.
Johannes Fromme jedenfalls beklagt, dass er viel zu selten zum Spielen kommen. Derzeit spielt er Bomberman. Da müssen Hindernisse und Gegner mit gezielt platzierten Bomben aus dem Weg geräumt werden. Das Spiel ist schon ein Vierteljahrhundert alt. Verbotsforderungen sind bislang nicht laut geworden.