Verhandlung vor dem Landgericht Halle Verhandlung vor dem Landgericht Halle: Die große Abzocke auf Kaffeefahrten

Halle (Saale) - Die Einkaufsliste klingt ziemlich simpel: insgesamt vier Flaschen Orangen-, Karotten und Zitronensaft, acht Röhrchen Vitamin- und Calciumtabletten aus dem Discounter um die Ecke, eine Packung Enzymkapseln. Schon hätte man die wichtigsten Inhaltsstoffe von Nahrungsergänzungsmitteln zusammen, die auf sogenannten Kaffeefahrten angeboten werden. Das jedenfalls sagt das niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz, das Ende 2013 ein ganzes Sortiment von Kaffeefahrt-Produkten auf seine Bestandteile untersucht hat.
Der große Unterschied liegt im Preis. Die eingangs beschriebenen Zutaten sind demnach, großzügig gerechnet, für maximal 50 Euro zu haben und reichen für eine 90-Tage-Ration. Kaffeefahrt-Teilnehmer, so die Verbraucherschutzbehörde, hätten für die gleiche Ration zwischen 1.000 und 3.000 Euro gezahlt. Fazit: „Das gesparte Geld reicht für eine wunderschöne, auch längere Reise oder viele, viele Ausflugsfahrten!“
Die große Abzocke auf Kaffeefahrten - sie ist immer wieder Thema. Am Landgericht Halle könnte das Geschäft für vier Männer und eine Frau jetzt juristische Konsequenzen haben. Dort beginnen im November gleich zwei Kaffeefahrten-Prozesse, der erste am Dienstag. Vier der Angeklagten stammen aus Norddeutschland - aus Cloppenburg, Bremen und Delmenhorst. Die Region gilt als Hochburg für undurchsichtige Kaffeefahrt-Unternehmen, die sich oft hinter einer Postfachadresse verstecken.
Nicht vorhandene Wirkung
Die Masche, wie sie in der Anklage laut Landgericht Halle geschildert wird, klingt gerade für Verbraucherschützer nur allzu bekannt: Mit dem angeblichen Gewinn eines LCD-Fernsehers oder einer Digitalkamera sollen Teilnehmer im Juni 2014 auf eine Fahrt gen Thüringen gelockt worden sein, wo ihnen in einem abgelegenen Gasthof Nahrungsergänzungsmittel angepriesen wurden. Der Preis: stolze 998 Euro - obwohl die Produkte im Handel für 52 Euro zu haben waren. Angeblich sollten die Mittel auch allerlei tatsächlich nicht vorhandene Wirkungen haben, zum Beispiel verloren gegangene Knochenstrukturen aufbauen, um Operationen zu vermeiden, Demenz vorbeugen.
Ähnlich klingen die Vorwürfe im zweiten Prozess. Unter einem erfundenen Firmennamen soll ein Hauptgewinn im Wert von 3.500 Euro versprochen worden sein. Tatsächlich gab es laut Anklage im Februar 2014 in einer Gaststätte in Bad Dürrenberg (Saalekreis) wieder kostspielige „Wundermittel“ zu kaufen. Zum Beispiel 1.500 Euro teure Matratzenauflagen, die angeblich aufgrund von „Sensoren“ in der Lage seien, „so ziemlich jede Krankheit“ zu heilen, darunter Rückenschmerzen und Inkontinenz. Auch Fischöl-Kapseln zum Preis zwischen 500 und 1.000 Euro sollten gesundheitsfördernde Wirkung haben, die laut Anklage tatsächlich nicht vorhanden war. Die Masche zog offensichtlich: Zumindest drei der betagten Reiseteilnehmer haben die Matratzen gekauft.
Warnung vor Kaffeefahrten
Seit Jahren wird immer wieder vor Kaffeefahrten gewarnt. Dass sie dennoch funktionieren, hat laut Gabriele Emmrich von der Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt Gründe. „Ein ganz großer ist die soziale Vereinsamung von Senioren“, sagt sie. Ihnen wird ein Gemeinschaftserlebnis angeboten, um sie herum mit gespielter Freundlichkeit ein Wohlfühl-Effekt erzeugt, der Eindruck, dass sich jemand um sie und ihre Gesundheit kümmert. So boomt das Geschäft mit den alten Menschen seit Jahren wieder. „Es ist schlimmer denn je!“, urteilte Emmrich erst im Sommer nach einer in Schönebeck von der Polizei gestoppten Verkaufstour.
Für die Veranstalter ist es ein Riesen-Geschäft. Schätzungen zufolge wird mit dubiosen Verkaufsfahrten bundesweit jährlich 500 Millionen Euro Umsatz gemacht. Jedes Jahr nehmen bis zu fünf Millionen Menschen an ihnen teil. Dem hessischen Lahn-Dill-Kreis, der als einzige öffentliche Stelle in Deutschland eine aktuelle Warnliste zu Kaffeefahrt-Offerten betreibt, wurden innerhalb von drei Jahren fast 2.600 Einladungen zugespielt - zuletzt auch wieder einige aus Sachsen-Anhalt. „Seriöse Einladungen waren, von verschwindend wenigen abgesehen, praktisch keine dabei“, heißt es in einem Merkblatt des Lahn-Dill-Kreises, in dem die Tricks und Tarnungen der Branche aufgeführt werden.
Wichtige Hinweise zu Kaffeefahrten, zu denen oft über vermeintliche Gewinnmitteilungen eingeladen wird, hat der hessische Lahn-Dill-Kreis in seinem Merkblatt gebündelt. Hier einige der Ratschläge:
Steht auf der Einladung eine deutsche Postfachadresse, sind die genannten Firmen der Erfahrung der Verbraucherschützer nach frei erfunden. Über Postfach-Adressen seien die Verantwortlichen nicht dingfest zu machen. Inzwischen laden oft Firmen aus Holland zu Kaffeefahrten. „Die Firmengründer sind aber nachweislich Deutsche“, so der Lahn-Dill-Kreis - sie versuchten, hier Vorschriften zu umgehe
„Sie werden meist schlicht und ergreifend nicht ausgehändigt oder höchstens dann, wenn sie geringwertig sind.“ Das 50-teilige Haushalts-Set sei dann ein Paket Streichhölzer, das halbe Schwein wiege tatsächlich 100 Gramm und sei aus Marzipan. Ein angeblich 149,50 Euro teures Hautcreme-Geschenk war im Handel für 2,34 Euro zu erwerben.
Theoretisch kann der Vertrag innerhalb von zwei Wochen widerrufen werden, ohne Widerrufsbelehrung sogar noch nach vier Wochen. „Bei unseriösen Anbietern kann es allerdings außerordentlich schwierig bis unmöglich werden, das Widerrufsrecht durchzusetzen, weil keine zustellfähige Adresse bekannt ist.“
www.lahn-dill-kreis.de (links unter „LDK für ältere Menschen“)
Etwa beim Stichwort Gewinne: Pro Bus würden die Veranstalter zwischen 1.500 und 5.000 Einladungen verschicken - mit gleichlautendem Text und Gewinnversprechen. In einem der jüngsten Fälle sollte es 1.000 Euro geben - wer hochrechnet, weiß, was das Unternehmen theoretisch also an Gewinngeldern bereithalten müsste. „Wir beschäftigen uns seit 2007 intensiv mit derartigen Kaffeefahrten und haben noch nie davon gehört, dass ein Mensch, der auf Kaffeefahrt geht, mit einem Bündel Bargeld in der Hand wieder nach Hause gekommen ist“, heißt es in der Warnmeldung des Lahn-Dill-Kreises. Normal sei indes, dass Waren zum 30- bis 100-fachen des Einkaufspreises veräußert werden. Ältere Menschen könnten sich den oft stundenlangen rhetorisch geschickt vorgetragenen Verkaufs-Attacken oft mehrerer Sprecher hintereinander kaum erwehren.
Schärfere Gesetze geplant
Inzwischen reagiert die Politik. Auf eine Initiative aus Bayern hin hat der Bundesrat Ende September einen Gesetzentwurf beschlossen, um unseriöse Verkaufsfahrten besser bekämpfen zu können. Unter anderem sollen Bußgelder für verschiedene Verstöße im Zusammenhang mit den Touren verzehnfacht und der Vertrieb von Finanzdienstleistungen, Nahrungsergänzungsmitteln und Medizinprodukten verboten werden. „Ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Emmrich. Wichtig sei aber auch, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern sich schnell zu offenbaren, wenn man Opfer einer unseriösen Verkaufsfahrt wurde. „Wenn noch kein Geld geflossen ist, kann man manches noch richten.“
Für die beiden Prozesse in Halle sind Verhandlungstermine bis in den Februar 2016 angesetzt. Vorgeworfen werden den Angeklagten Verstöße gegen das Lebensmittel- und Medizinproduktegesetz, Betrug und Urkundenfälschung beziehungsweise versuchter gewerbsmäßiger Betrug. (mz)