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Therapie Therapie: Pädophile finden Hilfe in Leipzig

Von Alexander SChierholz 24.11.2011, 20:45

Leipzig/MZ. - Der Vergleich ist drastisch und er hinkt, aber er macht deutlich, worum es Christoph Joseph Ahlers geht: "Stellen Sie sich vor", sagt der Psychologe, "da steht auf einer Feier jemand auf, sagt, ich bin der Horst, bin Alkoholiker und seit 30 Jahren trocken. Dann klatschen alle. Aber wenn er sagt, ich bin Pädophiler und habe seit 30 Jahren mein Verhalten im Griff, dann ruft garantiert jemand die Polizei."

Bevor jetzt jemand etwas falsch versteht: Ahlers ist weit davon entfernt, den sexuellen Missbrauch von Kindern zu verharmlosen. Im Gegenteil: Er will dafür sorgen, dass Männer, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, gar nicht erst übergriffig werden. "Pädophilie", sagt der Wissenschaftler, "ist eine krankhafte Störung." Sie sei nicht heilbar. "Wer davon betroffen ist, muss lernen auf sich aufzupassen." Genau wie Alkoholiker, die nicht mehr trinken dürfen.

Voraussetzung: nicht straffällig

Beim Aufpassen also wollen Ahlers und sein Team helfen: Seit Anfang November gibt es auch an der Uni Leipzig das Projekt "Dunkelfeld". Ein Therapieangebot, das sich an pädophil veranlagte Männer richtet, die noch nicht straffällig geworden sind. Die wissen, dass sie potenziell eine Gefahr sind. Die unter ihrer Neigung leiden und sie kontrollieren wollen. Seit das Projekt 2005 an der Berliner Charité gestartet wurde, suchten dort mehr als 1 500 Männer Hilfe, aus eigenem Antrieb. In Leipzig werden Ahlers und die Psychologin Mandy Werner ab Januar die Therapien leiten. 13 Männer haben sich bisher gemeldet.

Es ist eine heikle Mission. Da sind die Zahlen, die für sich zu sprechen scheinen: rund 12 000 angezeigte sexuelle Übergriffe auf Kinder jährlich - wobei die wahren Zahlen noch höher sein dürften. Experten gehen von bis zu 60 000 Opfern im Jahr aus. Die meisten Taten werden nicht angezeigt, bleiben ungesühnt - Kriminologen sprechen vom Dunkelfeld.

Und da ist die Öffentlichkeit, die noch das Diktum des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder von 2001 im Ohr hat: "Wegschließen - und zwar für immer." Eine Öffentlichkeit, die, so sagt es der Psychologe, nicht wahrhaben wolle, dass diejenigen, die sich an Kindern vergehen, in den allermeisten Fällen aus deren sozialen Umfeld kommen - Lehrer, Jugendbetreuer, Trainer, Pfarrer. Oder sogar die eigenen Väter. "Wir haben es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun", sagt Ahlers. Pädophile kämen aus allen Schichten, aus allen Altersgruppen. Vom Hartz-IV-Empfänger bis zum Professor. Nach Schätzungen leben in Deutschland rund 250 000 pädophil veranlagte Männer. Viele von ihnen, sagt Ahlers, seien in ihrer Kindheit selbst sexuell missbraucht worden.

Aber sie würden nicht automatisch zum Täter. Die Wahrscheinlichkeit, dass Pädophile Kinderpornos konsumieren, sei hoch, sagt die Psychologin Laura Kuhle. Bis sie sich aber an Minderjährigen vergehen, muss viel passieren. Als Risikofaktoren gelten etwa Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen, ein Mangel an Einfühlungsvermögen, psychische Auffälligkeiten oder Rauschgiftmissbrauch. Doch es gibt keine Liste, die die Psychologen abhaken können. Jeder Fall ist anders.

Eins aber, sagt Therapeut Ahlers, gilt immer: "Niemand ist Schuld an seiner sexuellen Neigung. Aber jeder hat die Verantwortung für sein sexuelles Verhalten." Genau da setzen sie in der Therapie an: ein Jahr lang 45 Gruppensitzungen, acht bis zehn Leute, maximal ein Dutzend. Es geht um Kontrolle, seiner selbst und seines Sexualverhaltens. Bei Bedarf werden auch Medikamente verordnet. "Die Männer müssen lernen auf sich aufzupassen", erklärt Ahlers.

Durchaus mit Erfolg, sagen die Psychologen. "Das Therapieangebot kann Menschen mit pädophiler Neigung dabei helfen, keine Übergriffe auf Kinder zu begehen", sagt Prof. Henry Alexander, Projektleiter in Leipzig. Das hätten die bisherigen Erfahrungen gezeigt. In Berlin hat es seit 2005 mittlerweile 14 Therapiegruppen mit insgesamt rund 70 Teilnehmern gegeben. Mehr als ein Drittel von ihnen suchte anschließend noch eine Nachsorgegruppe auf.

Ob das "Dunkelfeld"-Projekt aber das Gros der Täter erreichen kann, das bleibt die große Frage. Auch Ahlers kann sie nicht beantworten. Laut Statistiken sind nur bis zu 40 Prozent der Täter pädophil veranlagte. Die übrigen haben keine sexuelle Neigung zu Kindern. Sie missbrauchen sie, weil sie aus ganz verschiedenen Gründen nach einer Ersatzbefriedigung für sich suchen. Weil sie mit dem Partner sexuell nicht mehr klarkommen oder gar keinen finden. Weil sie von Kindern keinen Widerstand erwarten, zumal wenn der Missbrauch im engen sozialen Umfeld oder gar in der eigenen Familie passiert. Solche Täter hinterfragten sich meist nicht, sagt Ahlers. "In ihren Fantasien kommen Kinder nicht vor." Deshalb gebe es keinen Druck, sich helfen zu lassen.

Keine Illusionen

So macht der Psychologe sich auch keine Illusionen: "Wir können Kindesmissbrauch nicht aus der Welt schaffen." Das Projekt erreiche nur problembewusste Männer. "Aber das ist wenigstens etwas statt nichts."

Kontakt für betroffene Männer: 0341/972 3958, [email protected]