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Streit um Torgauer Urnen Streit um Torgauer Urnen: Unterm Mühlstein der Geschichte

Von Steffen Könau 08.12.2004, 20:04

Kloster Neuendorf/MZ. - Arno Brake war am Tatort. Am 14. April 1945 morgens, es ist noch dunkel über Gardelegen, steht der Volkssturmmann aus Kloster Neuendorf mit einer Schaufel in der Hand vor der Feldscheune im Gardelegener Ortsteil Isenschnibbe. Sein Befehl: Die Leichen von 1 016 KZ-Häftlingen begraben, die am Abend zuvor in einem grauenhaften Massaker durch deutsche Truppen unter dem Befehl von NSDAP-Kreisleiter Gerhard Thiele ermordet worden sind.

Brake, 44 Jahre alt und von Beruf Holzfäller, bleibt allerdings nicht lange. "Ich hörte ein Ächzen", gibt er später zu Protokoll, "und es hing Brandgeruch in der Luft". Arno Brake wird schlecht. Er flüchtet vom Ort des Grauens und verbringt den Rest des Tages im Bett.

Sein Nachbar Wilhelm Biermann, auch er zum letzten Volkssturm-Aufgebot bestellt, ist schon seit dem Abend zuvor krank. Als ihn der Befehl erreicht, zur Scheune zu kommen, sagt der 49-jährige Musiker ja. Und bleibt zu Haus.

Sechzig Jahre später gelten Brake und Biermann dennoch als Verantwortliche für das "Kriegsverbrechensfall 1 021" genannte Massaker von Isenschnibbe. Seit in Halle ein Streit um eine Grabfläche für 117 Tote aus dem Sowjet-Straflager Torgau tobt, ist der Mühlstein der Geschichte dabei, Brake und Biermann zu zermahlen. Sie sind Hauptfiguren in einem Geschichtskrimi, von dem weder Brakes Sohn Bernhard noch Biermanns Enkelin Waltraud Adolph etwas ahnen. "Von Vater wussten wir nur", erzählt Sohn Bernhard, "dass er in Torgau gestorben ist." Weswegen er verurteilt wurde, woran er starb und wo er begraben liegt - "meine Mutter", sagt der 80-Jährige, "hat es bis zu ihrem Tod nicht erfahren."

Der Musiker und der Holzfäller, gestorben 1950 und 1951 in Torgau, lagen mehr als 50 Jahre anonym auf dem halleschen Gertraudenfriedhof verscharrt. Kaum hatte die Stadt Halle dann eine würdige Grabstätte für sie und die anderen Torgauer Toten angelegt, entdeckte die Interessenvertretung der Verfolgten des Naziregimes (IVvdN) Brake und Biermann als Kriegsverbrecher. Beide seien "Teilnehmer an dem Massaker von Isenschnibbe" gewesen, klagten IVvdN-Forscher nach "monatelangem Archivstudium" an. Deshalb seien beide völlig zurecht von der sowjetischen Militäradministration verurteilt und in Torgau inhaftiert worden, meint IVvdN-Chef Jupp Gerats. "Zweifelsfrei Schuldigen" wie ihnen dürfe nicht im Nachhinein ein "Ehrenhain" errichtet werden. "Man hätte sich vorher ein Bild machen sollen, wen man da begräbt."

Ein Hinweis, an den sich besser auch die IVvdN-Forscher gehalten hätten. Dann wären sie im Stadtarchiv Gardelegen auf Unterlagen gestoßen, die die wahre Geschichte von Brake und Biermann schildern: Eine Geschichte, die viel von der Tragik des Krieges, wenig aber von Kriegsverbrechen erzählt, wie Herbert Becker von der Gedenkstätte Gardelegen beschreibt.

Fest steht danach, dass sowohl Brake als auch Biermann getötet haben. Gemeinsam mit anderen Volkssturmleuten sind beide am 13. April 1945 unterwegs, entflohene KZ-Häftlinge zu fassen. Zwei Slowaken gehen der Streife ins Netz. Sie werden zum Befehlstand am Forsthaus Lindenthal gebracht, dort erteilt Kreisleiter Gerhard Thiele Brake und Biermann den Befehl, die Männer zu erschießen. Es ist 18 Uhr, das Massaker an der Feldscheune, am anderen Ende von Gardelegen, hat begonnen.

Eine Teilnahme daran ist den beiden Männern später nie vorgeworfen worden. Brake und Biermann werden von den Amerikanern wegen der Erschießung der beiden Slowaken interniert und im Sommer 1946 gemeinsam mit zwei Dutzend anderen Männern, die im Umfeld des "Kriegsverbrechensfall 1 021" aufgegriffen wurden, an die sowjetischen Truppen übergeben. Jetzt plötzlich aber werden aus den Volkssturmmännern die Massenmörder und Kriegsverbrecher, die im Kampf gegen die Torgau-Grabstätte als Munition dienen. Obwohl die Amerikaner die Ermittlungsakten an die Sowjets übergeben haben, aus denen hervorgeht, was Brake und Biermann getan haben und was nicht, verurteilt ein Militärtribunal beide im Sommer 1947 zu je 25 Jahren Zwangsarbeit.

Ein Urteil, das in seiner Zufälligkeit kein Kriegsverbrechen sühnt: Der Kommandeur ihrer Volkssturmtruppe wird nicht angeklagt, sondern zu den Amerikanern zurückgeschickt, die ihn sofort freilassen. Und Kreisleiter Gerhard Thiele ist schon seit Januar 1946 ein freier Mann. Der Initiator des Massakers in der Feldscheune stirbt 1994 im Alter von 85 Jahren als unbescholtener Mann.