Straßenverkehr Straßenverkehr: Motorradfahrer leben gefährlich
Halle (Saale)/MZ. - Martin Schaller lebt. Das ist das Wichtigste. Und, schnelle Motorräder faszinieren ihn. Obwohl er gelähmt ist - seit seinem schweren Motorrad-Unfall in Eisleben.
Erstaunt reagiert da sogar sein langjähriger Freund und Trainer Rainer Liedtke. Für ihn steht fest: "Motorräder sind und bleiben ein extremes Risiko." Viele Maschinen seien zu schnell, meint er, die Fahrer und anderen Verkehrsteilnehmer würden damit oft überfordert. Die aktuelle Unfallbilanz gibt ihm recht. Kein Wochenende vergeht ohne Horror-Unfall mit Motorrad. Einige, die dem Tod nur knapp entkommen sind, haben inzwischen im Sport neuen Lebensmut gefunden.
Martin Schaller kann wieder lachen, auch über Liedtke: "Davon hast du keine Ahnung. Ich schaue mir immer wieder gerne Motorradrennen an." Erstaunlich, das sagt ein Mann, der ein Opfer ist und ein schweres Schicksal meistert.
Die Rückblende - Sommer 1997: Ein Autofahrer nimmt dem damaligen Lehrling mitten in der Stadt die Vorfahrt. Schaller kann nicht mehr bremsen. Seine Maschine prallt in voller Fahrt auf das Blech. Er fliegt über den Wagen und knallt auf das Pflaster. Alles passiert in Sekundenschnelle. Dann müssen die Ärzte um sein Leben ringen. Ein Jahr verbringt der junge Mann in Kliniken. Danach beginnt sein zweites Leben - auf sich allein gestellt, mit einem Stück Edelstahl im Kreuz und wieder auf zwei Rädern unterwegs, im Rollstuhl - für immer.
Schaller lässt sich davon nicht unterkriegen. Sein Glück im Unglück: Die Familie hilft ihm, wo sie kann. So bringt er sogar die Kraft auf, mit dem Schuldigen des Unfalls zu sprechen. Dieser Mann zieht später weg aus Eisleben. Schaller jedoch bleibt. Er lernt einen neuen Beruf und kann sogar einen Witz darüber machen. "Als Bauarbeiter wollte ich immer große Brücken bauen. Jetzt baue ich eben kleine Brücken." Der jetzt 30-Jährige arbeitet inzwischen erfolgreich als Zahntechniker in einer Hettstedter Praxis. Und er meint: "Soweit bin ich ganz fit." Wie fit und wie mobil man im Rollstuhl sein kann, das beweist Schaller sich selbst immer donnerstags, ab 17 Uhr, beim Training in der ehemaligen Kaserne in Halle-Lettin.
Der Mann mit dem kräftigen Armen ist Kapitän des halleschen Rollstuhl-Basket-Clubs 96. Gerade endet die Saison. Eine Bilanz kann nicht besser sein: Der Verein ist ungeschlagen Landesmeister, steigt nun aus der Oberliga in die Regionalliga Ost auf. Schaller versenkt viele der entscheidenden Bälle im Korb, 14 allein im Schlussspiel gegen Germania Halberstadt. Ist er so etwas wie der Dirk Nowitzki von Halle? "Nein, denn ich bin keine Ausnahme." Mehr als die Hälfte seiner Meister-Mannschaft besteht aus Männern, die nach ihrem Motorrad-Unfall auf den Rollstuhl angewiesen sind.
Dass Zeit vielleicht doch manchmal eine seelische Wunde heilen kann, beweist zum Beispiel die Stimmungskanone des Teams, Christian Schibilla. "Mich hat es in einer Kurve auf der B 6 zwischen Gröbers und Zwintschöna erwischt." Unglaublich, aber wahr: Auslöser des katastrophalen Unfalls ist ein "dummer Feldhase", so Schibilla. Gewiss, der Zusammenstoß kostet dem Tier das Leben. Der junge Montagearbeiter aber verliert die Gewalt über das Motorrad. Es fliegt geradezu auf den Acker. Die Federgabel bricht. Der Fahrer fällt so unglücklich, dass er sich nicht mehr rühren kann. Und kein Auto hält, die Bergung des Schwerstverletzten beginnt erst fünf Stunden später.
Seine Erinnerung an die schlimme Zeit nach dem Unfall ist verblasst. Jetzt ulkt er: "Ich konnte lange Zeit kein Langohr mehr sehen." Längst schmecke ihm der Hasenbraten wieder. Und das ist nicht der einzige Fortschritt: Was von den Ärzten im halleschen Unfall-Krankenhaus Bergmannstrost zunächst nur als Rehabilitation gedacht ist, wächst bei Schibilla über die Jahre zur wahren Leidenschaft. Hektisches Beschleunigen, plötzliches Abbremsen, Richtungswechsel und Drehungen in voller Fahrt - da machen dem Frührentner im Rollstuhl nicht mehr viele etwas vor.
Der Unfall steht längst nicht mehr im Mittelpunkt. Dafür mischt er sich gern ein. Seine Meinung: "PS-Limits sind Quatsch, besser ist der Führerschein mit 15." Je früher Jugendliche die Fahrschule machten, so seine Überzeugung, desto sicherer würden sie dann fahren können.
Werner Elmenthaler, der Senior in der Runde der Handicap-Spieler, ist für volles Risiko im Spiel, aber nicht auf der Straße. "Ein Motorrad ist kein Spielzeug, das muss jedem klar sein." Und Autofahrer sollten Motorradfahrer stets mit auf der Rechnung haben. "Ein Auto schaffte das Überholen nicht, blieb auf der Gegenfahrbahn, auf der ich kam - einen Monat vor Studienbeginn." Vier Jahrzehnte schon ist Elmenthaler auf den Rollstuhl angewiesen. In dieser Zeit ist ihm das 28 mal 15 Meter große Spielfeld mit den beiden Körben, die jeweils in drei Meter Höhe hängen, fast zur Heimat geworden. Aber nicht nur auf dem Spielfeld steht der gelernte Chemie-Facharbeiter seinen Mann. Auch als Betriebswirt behält der 60-Jährige den Überblick, beispielsweise wenn es um Investitionen in den halleschen Behindertensport geht. Seine Forderung: "Eine Sporthalle mit rollstuhlgerechter Anfahrt, rollstuhlgerechten Umkleide-Kabinen und Toiletten, das wäre was."