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Straßengeschichten Straßengeschichten: Aufblühen im Schattendasein

Von Karina Blüthgen 30.07.2006, 18:58

Wittenberg/MZ. - Sie ist nicht besonderslang, nur 39 Hausnummern zählt die Jüdenstraße.Eine ganz normale Straße, mit kleinen Lädenund Wohnungen, gelegen im historischen Zentrumvon Wittenberg. Wer hier entlang geht, suchtselten die weltberühmten Gebäude Wittenbergsoder einen Laden, um ein Andenken an seinenBesuch in der Lutherstadt zu kaufen.

Die Häuser, die in der Jüdenstraße stehen,haben freilich ebenso wie Lutherhaus und Cranach-Apothekeihre Geschichte. Wittenbergs altes Gymnasiumsteht hier, bis 1888 genutzt, dann Sitz einerDruckerei und seit der Wende in einen Dornröschenschlafentrückt. Mancher erinnert sich noch an denLohgerbermeister Naumann ein Stück weiter,bei dem man früher für ein paar Mark die getrocknetenKaninchenfelle verkaufte.

Die Jüdenstraße ist eine der ältesten StraßenWittenbergs, bereits Anfang des 15. Jahrhundertswird sie als "Jodenstraße" geführt. Davorwar die Stadt in Viertel unterteilt, einesdavon war das Jüdenviertel. Auf kleinen Grundstückenhatte sich vorwiegend die jüdische Bevölkerungangesiedelt.

Bei der Machtergreifung durch die Nationalsozialistenim Jahr 1933 lebten 71 Juden in Wittenberg.Sie wurden bis Kriegsende fast alle von denNazis ermordet, einigen gelang die Flucht.Die Nationalsozialisten tilgten auch den Straßennamenaus der Stadtkarte - ab Mai 1937 gab es inWittenberg statt der Jüdenstraße die WettinerStraße.

Zu DDR-Zeiten wurde aus der Wettiner Straßedie Rosa-Luxemburg-Straße. Erst nach der Wende- im Dezember 1990 - beschloss der WittenbergerStadtrat, der historischen Straße wieder ihreursprünglichen Namen zu geben. Die Rückkehrzur Bezeichnung Jüdenstraße war damals allerdingsnicht unumstritten, es gab in der Bevölkerungeinige Diskussionen.

Heute prägen Fahrrad- und Gemüseladen, Optiker,Boutiquen und ein alteingesessener Lebensmittelhändlerdas Bild. Schmal sind die Häuser auf der Nordseite,die an die Festungszeit Wittenbergs erinnern.Sie zwängten sich zwischen Straße und deneinst dahinter liegenden Befestigungsanlagen.

Die Jüdenstraße liegt parallel zur Touristenmeileund heute eher in deren Schatten. Währenddort im Minutentakt Gruppen in den Sprachender Welt das Wichtigste zur Stadtgeschichtehören, fahren hier die Brautpaare vor derTrauung im Alten Rathaus zu einem der stadtbekanntenFotografen.

Die Jüdenstraße hat eine gewisse Beschaulichkeitbewahrt. "Touristen kommen nun ab und an hierher",berichtet Hassan Ibrahim. Er betreibt seitkurzem einen Laden für Kunstgewerbe und Geschenkartikel.Ibrahim ist in Palästina geboren, als Jugendlicherkam er zum Studium nach Deutschland und bliebhier. "Richtig viel Betrieb war allerdingsbei Luthers Hochzeit."

Das alljährliche Stadtfest der Wittenbergerist in der Tat ein Magnet. Auch die Jüdenstraßelebt dann auf. Sonst sind es zumeist die wöchentlichenMarkttage, die etwas mehr Trubel bringen.Vor allem Bewohner aus den umliegenden Dörfern,die mittwochs möglichst zeitig zum Wochenmarktauf dem benachbarten Arsenalplatz fahren,erledigen dann noch dies und das. Zum Beispielim Zeitschriftenladen von Ute Heerda. Sieist zufrieden. "Die Straße hat sich zum Positivenverändert."

Reibungspunkt war für manchen Wittenbergerdie Offenlegung des Rischebaches, der weitüber ein Jahrhundert im Verborgenen unterdem Bürgersteig geflossen war. Zu schmal seidie Straße, sagten Kritiker und warnten auchvor Verschmutzung. Einst diente der Bach zumAntrieb von Mühlen und zur Versorgung mitWasser, nicht zuletzt schwemmte er auch dieHinterlassenschaften der Bürger weg. Nun brichter, gereinigt und neu gebettet, unvermitteltam Pfarrhaus ans Tageslicht.

Hier und da verhängte Schaufenster leer stehenderLäden, dort sanierte Häuser. Ein Bäcker hatgerade einen Laden eröffnet, ein Fleischerwill folgen. Veränderungen dauern manchmalJahre, manchmal Jahrzehnte. Aber alles fließt,wie der Rischebach.