Sternenkinder Sternenkinder: Frau aus Halle spricht über Totgeburt

Halle (Saale)/MZ - Sie haben die kleine Marla in den Armen gehalten und sie sich ganz genau angeschaut: die winzigen Hände, die Füßchen. Sie hat die gleiche Nase wie ihr großer Bruder, haben Lisa Seiler (Namen geändert) und ihr Mann noch gesagt. Und sie haben geweint. Bis zuletzt hatten sie gehofft, dass vielleicht doch alles ein Irrtum war. Ein böser Traum. Dass sie trotzdem schreit. Vergeblich. Ihre Tochter, ein Bündelchen von 44 Zentimetern und 1.440 Gramm, hat nie das Sonnenlicht gesehen. Kein Laut, als Lisa Seiler sie auf die Welt brachte. Nur erdrückende Stille.
Es ist der 28. März, Gründonnerstag. Allgemeine Vor-Osterstimmung. Im Fernsehen laufen Berichte über David Hasselhoff, der die East Side Gallery in Berlin retten will. Papst Franziskus wäscht Häftlingen in einem Jugendgefängnis die Füße. Der Bundesgerichtshof erlaubt Konkurrenten der Schoko-Firma Lindt & Sprüngli, ebenfalls Goldhasen zu verkaufen. Lisa Seiler, in der 31. Schwangerschaftswoche, hat an diesem Tag kein Ohr für derlei Nachrichten, ganz anderes im Kopf. Die Bewegungen in ihrem Bauch sind vor einigen Tagen weniger geworden. Die 31-Jährige aus Halle war sofort zu ihrer Hebamme gegangen. Entwarnung. Auch andere Frauen, mit denen sie in ihrer Sorge darüber sprach, beruhigten sie. Doch die Stille in ihrem Bauch lässt sie nicht los. Lisa Seiler spürt ihre ungeborene Tochter immer weniger.
Beim Arzt kommt sie sofort an die Reihe
Nun liegt sie in der Hebammenpraxis und drei Hebammen, eine nach der anderen, versuchen, die Herztöne des Kindes festzustellen. Es funktioniert nicht. Lisa Seiler wird zu einem Frauenarzt geschickt, ihr Partner eilt herbei, um sie dort hinzubringen. „Ich hätte mir in dieser Situation gewünscht, dass auch eine der Hebammen mitgekommen wäre“, sagt sie heute, rund acht Monate später. Beim Arzt kommt sie sofort an die Reihe. Wenige Minuten später ist das Unerwartete schmerzliche Gewissheit. Das Ultraschallgerät bleibt stumm. Marla lebt nicht mehr.
Dann geht es ganz schnell. Der Vater organisiert eine Betreuung für den gemeinsamen Sohn, damit er selbst bei seiner Frau bleiben kann. Im Krankenhaus wird die Geburt eingeleitet. So drastisch es zunächst klingt: Mediziner und Psychologen empfehlen in solchen Fällen die natürliche Geburt. Das sei für die Trauerarbeit, für die Verarbeitung wichtig. Es braucht 33 Stunden, bis Marla, die von der Gebärmutter nicht mehr richtig versorgt wurde, auf der Welt ist. Inzwischen ist Karfreitag. Die Eltern behalten sie mehrere Stunden in ihrem Zimmer im St.-Elisabeth-Krankenhaus in Halle, wollen sich das Bild ihrer Tochter einprägen. Gerade noch voller Vorfreude auf ihr zweites Kind, müssen sie sich plötzlich mit dem Tod auseinandersetzen. Zu Hause steht die Wickelkommode mit Stramplern und Kleidchen bereit, der Sohn freut sich auf eine Schwester. Am nächsten Morgen verabschieden sie sich ein zweites Mal von ihrer Tochter.
Ein zweites Abschiednehmen
„Es ist häufig sinnvoll, dass es ein zweites Abschiednehmen gibt“, sagt Reinhard Feuersträter, der als Seelsorger des St.-Elisabeth-Krankenhauses betroffene Eltern betreut. Es gehe dabei auch darum, das Geschehene begreifen, ja wahrhaben zu können. Wenn in dieser Klinik ein Kind tot auf die Welt kommt oder nach der Entbindung stirbt, wird stets eine Erinnerungsmappe für die Eltern angelegt, mit Fotos und den Fuß- und Handabdrücken des Babys - auch, wenn nicht jedes Paar es fertigbringt, sich diese anzusehen und mit nach Hause zu nehmen. „Wir bewahren die Mappen auf. Oft kommen die Eltern später, manchmal erst nach zwei Jahren, und holen sich ihre Mappe doch noch ab“, erzählt Feuersträter. Das kirchliche Krankenhaus kümmert sich auch um eine würdige Beisetzung von tot geborenen Kindern mit einem Gewicht unter 500 Gramm, für die es keine Bestattungspflicht gibt: Zweimal im Jahr organisiert der Seelsorger eine Trauerfeier auf einem eigens für die Sternenkinder geschaffenen Grabfeld auf dem Südfriedhof der Saalestadt. Solche Bestattungen machen inzwischen viele Kliniken möglich, es gibt aber etwa auch private Initiativen.
„Die Trauer hat keine Grammgrenzen“, sagt der Seelsorger - mit Blick auf eine Änderung im Gesetz, nach der nun auch tot geborene Kinder unter 500 Gramm beim Standesamt eingetragen werden können. Es gibt zwar keine genauen Fallzahlen, doch Experten gehen davon aus, dass etwa jede fünfte erkannte Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt endet - wobei das Risiko in den allerersten Wochen am weitaus größten ist.
Auf jeden Fall sind es mehr, als in der Öffentlichkeit und auch im Privaten über solche Schicksalsschläge gesprochen wird. „Das ist ein Tabu-Thema. Ein Kind, das stirbt, passt nicht in die Gesellschaft - das wird ausgeblendet“, sagt Lisa Seiler. Sie hat das selbst erlebt. Ihr Partner habe nach dem traurigen Geschehen etliche E-Mails an Freunde und Bekannte geschrieben und darin davon erzählt - darüber reden wollten die beiden so kurz danach nur mit den engsten Freunden und Familienangehörigen. „Ganz wenige haben geantwortet.“ Sicher ist es für andere oft schwierig, in solch einer Situation Worte zu finden - dabei bedarf es nicht mehr als einer kleinen Geste des Mitgefühls. Auch krassere Reaktionen habe sie erlebt: „Es gab Mütter in der Kita unseres Sohnes, die mich angestarrt haben, als sei ich eine Aussetzige“, erzählt Lisa Seiler, deren Schwangerschaft wegen des Bauchs ja unübersehbar gewesen war.
Familie und enge Freunde sind eine große Unterstützung gewesen
Doch es habe auch andere gegeben, etwa die Erzieherinnen, die sie spontan umarmten. Auch die Hebammen, die sie im Krankenhaus betreut haben, hätten sie mit ihrer einfühlsamen Art sehr berührt: „Sie waren eine Woche später auch bei der Abschiedsfeier für Marla dabei“, sagt die junge Frau - und eine Träne kullert über ihr Gesicht. Ihre Tochter trug das weiße Kleid mit lila Schmetterlingen, das sie schon für die Geburt besorgt hatte. Statt vieler Blumengestecke bekam sie von den Trauergästen Geschenke in den Sarg gelegt, den später alle gestalteten: Der vierjährige Sohn etwa hatte ein Bild für seine Schwester gemalt, ein Plüschtier hatten die Großeltern ausgesucht, die Eltern selbst einen Brief geschrieben. Familie und enge Freunde seien eine große Unterstützung gewesen, sagt die Akademikerin, die recht schnell wieder arbeiten gegangen ist. Auch bei Kollegen erfuhr sie viel Verständnis.
Als Paar und Familie seien sie zusammengewachsen. „Ich glaube, es ist leichter, wenn man schon ein Kind hat - weil man dann auch in der ersten schlimmen Zeit funktionieren muss“, sagt Lisa Seiler. Auch der kleine Sohn musste das Geschehene begreifen, auf behutsame Weise damit vertraut gemacht werden. „Uns war sehr wichtig, dass er selbst in dieser heftigen Situation immer spürt, dass wir für ihn da sind.“ Natürlich gibt es viele traurige Tage, aber heute könne sie - gerade wegen ihm - auch wieder Freude empfinden.
„Die Trauer muss Ort und Zeit bekommen“
„Die Trauer muss Ort und Zeit bekommen“, sagt Seelsorger Feuersträter. Am Anfang nimmt sie komplett ein, später verblasst sie - aber eine Narbe bleibt. Da sei es wie mit echten Narben: „Zu bestimmten Zeiten tun sie wieder weh.“ Am errechneten Geburtstermin im Juni sind Lisa Seiler und ihr Partner mit dem Sohn weggefahren, um auf andere Gedanken zu kommen. Die Babys von Freunden kann sie bis heute nicht auf den Arm nehmen. Mit ihnen wird sie stets daran erinnert werden, wann ihre Tochter in den Kindergarten gekommen wäre, in die Schule...?Im nächsten März, am ersten Jahrestag ihres Todes, wird im Garten der Familie eine Sternmagnolie hellrosa blühen. „Das ist Marlas Platz“, sagt Lisa Seiler. Sie und ihr Mann hatten sich immer zwei Kinder gewünscht. „Dann werden es eben irgendwann drei sein.“
