Soziales Soziales: «Hartz-IV-Polizei» in Bitterfeld
Bitterfeld/MZ. - Energisch drückt Anke Scholz auf die Klingel. Niemand öffnet. Wie so oft stehen Scholz und ihre Kollegin Christl Modemann vor verschlossener Tür. Es ist ein trüber Novembermorgen, ein kalter Wind weht durch die Straßen Bitterfelds. Aus einer dünnen Akte liest Hartz-IV-Kontrolleurin Modemann den ersten Fall des Tages vor: Eine Frau gibt auf ihrem Antrag zum Arbeitslosengeld II (ALG II) an, in einer Wohngemeinschaft mit einem Handwerker zu leben. Dies soll überprüft werden. Es gibt Hinweise, dass beide ein Paar sind. Scholz notiert: Zum zweiten Mal nicht angetroffen.
Es ist ein klassischer Fall. Bei einem unangemeldeten Hausbesuch soll kontrolliert werden, ob ein Leistungsempfänger in eheähnlichen Verhältnissen lebt. Seit dem Start von Hartz IV Anfang des Jahres haben sich auffallend viele Paare getrennt. Sie gelten nun nicht mehr als "Bedarfsgemeinschaft", müssen nicht mehr finanziell füreinander sorgen. Allein im Kreis Bitterfeld wurden in den zurückliegenden Monaten 1 000 neue Bedarfsgemeinschaften angemeldet.
Seit Mai sind Modemann und Scholz im Auftrag der Bitterfelder "Arbeitsgemeinschaft für Grundsicherung Arbeitssuchender" (Arge) unterwegs, um Missbrauch beim ALG II zu ermitteln - eine Art "Hartz-IV-Polizei". Die 20-jährige Anke Scholz arbeitete zuvor beim Sozialamt. Modemann (51), studierte Verfahrenstechnikerin, war zuletzt im Bauordnungsamt tätig.
In einigen Fällen sind Unregelmäßigkeiten offensichtlich. Eine Frau hat einen Untermieter, der ebenfalls Hartz-IV-Geld erhält, angemeldet. Beim Hausbesuch weist die 45-Jährige gleich darauf hin, dass man Bad und Küche teile. Scholz will wissen, warum sie ein gemeinsames Konto hätten. "Er hat keins, da helfe ich aus", so die Frau. Scholz blickt in den Kühlschrank, fragt nach gemeinsamen Einkäufen. In das Zimmer des Mannes darf sie nicht. Für Scholz ist der Fall - auch auf Grund früherer Aussagen - eindeutig: "Beide leben zusammen."
Die Arge Bitterfeld betreut 12 878 "Kunden", wie es im Agenturdeutsch heißt. Wie hoch ist der Missbrauch? "Es sind Einzelfälle", so Scholz. Später fügt sie hinzu, dass diese zunähmen. Kontrolliert wird bei begründetem Verdacht. "Wir erhalten viele anonyme Hinweise." Das beobachtet Modemann mit gemischten Gefühlen: "Manchmal ist es auch nur der böse Wille des Nachbarn."
Weiter geht es in den Dörfern: Eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern beantragt für 120 Quadratmeter Wohngeld, im Mietvertrag stehen nur 56. Schon an der Tür entschuldigt sich die Frau: "Ich müsste beim Ein-Euro-Job sein, bin aber krank." Im Haus riecht es streng, sechs Katzen flitzen über den Flur. Im Wohnzimmer sitzen zwei Männer auf dem Sofa und schauen eine Talk-Show. "Mein Freund wohnt nicht hier", sagt die 23-jährige unaufgefordert. Über den Besuch ist sie sichtlich verärgert: "Finde ich blöd, dass ihr hier rumstöbert." Modemann geht durch die Zimmer des Hauses und notiert: "Viermal Bettzeug in Betrieb."
Über ihre Fälle sprechen die Arge-Mitarbeiterinnen auf ihren Touren nicht viel. Es geht um Alltägliches, um Blitzer oder die Schrullen der Kollegen. "Wir sehen oft krasse Fälle, da muss man auch abschalten", sagt Scholz. Während der Fahrt geht Modemann die Notizen durch. Bei mehr als der Hälfte aller Kontrollen finden sie Unregelmäßigkeiten, schätzt sie. Dies liege auch daran, dass die Anträge kompliziert seien. "Nicht die ganz Armen betrügen am meisten, sondern die, die es nicht nötig hätten."
Modemann zeigt beim Fahren auf ein Haus. Dort wohne ein Polizist mit seiner Freundin. "Durch Ermittlungen gab es deutliche Hinweise, dass die Frau bei ihrem Freund lebt und zu Unrecht Geld bezieht." Doch stichhaltig nachweisbar sei das nicht. Denn niemand könne gezwungen werden, die Ermittlerinnen in seine Wohnung zu lassen.
11 Uhr, der nächste Termin: Ein arbeitsloser Gärtner hat Geld für einen Umzug beantragt, da seine Wohnung feucht sei. Nach dreimaligem Klingeln schaut ein junger Mann aus dem Fenster: "Was wollt ihr denn", fragt er, noch etwas verschlafen. "Ihre nasse Wohnung sehen", erhält er als Antwort. In der Ein-Raum-Wohnung kommt die Tapete von den Wänden. Es werden Bilder gemacht und der Vermerk: Wand ist feucht.