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Schwänzer Schwänzer: "Die Schule wartet!"

Von Ralf Böhme 09.04.2013, 18:42
Bleibt der Stuhl im Klassenzimmer regelmäßig leer, ist die sogenannte Zuführung fast das letzte Mittel. Dann holen Mitarbeiter des Ordnungsamtes die Schulschwänzer direkt zu Hause ab.
Bleibt der Stuhl im Klassenzimmer regelmäßig leer, ist die sogenannte Zuführung fast das letzte Mittel. Dann holen Mitarbeiter des Ordnungsamtes die Schulschwänzer direkt zu Hause ab. DPA Lizenz

Halle/MZ - 30 Minuten vor Unterrichtsbeginn - das ist die Zeit, zu der René Knofe gewöhnlich an einer fremden Wohnungstür steht. Und das pünktlich. Schlag sieben Uhr drückt er den Klingelknopf. Einmal, zweimal, dreimal. Das sei sein Job, als Wecker vom Dienst beim Ordnungsamt in Halle. Wenn sich nichts tue, schocke ihn das nicht. „Ich kann der geduldigste Mensch sein - und klingle immer wieder.“ Meistens rühre sich dann schon irgend jemand und ist spätestens hellwach, wenn Knofe sagt: „Guten Morgen, ich komme vom Ordnungsamt.“ Dabei hat der Überraschungsbesuch stets ein Stück Papier, eine amtliche Verfügung, die besagt, dass der Herr Sohn oder das Fräulein Tochter heute persönlich zur Schule abgeholt werden. Das hat einen einfachen Grund: Es geht um Schulschwänzer.

Tadel, Elternbrief, Einladung zum Schulleiter, Bußgeld, Mahnung - die sogenannten Zuführungen gelten auch in Sachsen-Anhalt als nahezu letztes Mittel, um die staatliche Schulpflicht zu erzwingen. Die Kosten - je nach Zeit- und Fahraufwand liegen sie in Halle zwischen 120 und 175 Euro - tragen entweder die betroffenen Kinder und Jugendlichen oder deren Eltern.

Im Vorjahr ist René Knofe 42 Mal unterwegs gewesen - in fast allen Stadtteilen, öfter aber in Problemvierteln. Mitunter kehrt er auch unverrichteter Dinge zurück. Mancher Schulschwänzer - zu einem Drittel handelt es sich dabei um Mädchen - tauche regelrecht ab. Hilft alles nichts, muss ein Jugendrichter entscheiden, der Schulschwänzer im Extremfall sogar zu einem Aufenthalt hinter Gittern verdonnern kann - Jugendarrest.

Höflich, aber bestimmt

Den Einwand, dass ein Zehnjähriger oder ein Berufsschüler mit 16 noch schlafe, lässt Knofe grundsätzlich nicht gelten. „Ich bitte sehr höflich, aber auch sehr bestimmt um Einlass.“ Wie könne es auch bei einem Schulschwänzer mit teils bis zu 50, 60 Fehltagen noch ein Pardon geben? Fest steht in solchen Fällen: Elterngespräche, Tadel in der Schule, amtliche Ermahnungen und häufig schon mehrere Bußgeldbescheide, so der übliche Ablauf, haben bisher keine Besserung gebracht.

„Jetzt aber raus aus den Federn, die Schule wartet!“ Das ist die Aufforderung, mit der der Mann vom Amt burschikos meist den Schlummer unterbricht. Der überraschte Schulschwänzer mache fast immer große Augen, so Knofe, wenn das Ordnungsamt am Bett stehe. Meist gebe es keine Diskussion. Nach zehn Minuten sei der amtliche Hol- und Bringedienst mit dem Schützling auf dem Weg. Natürlich mit dem Gepäck: den Schulsachen.

„Ich bin ein Mann, der auf den Wecker geht“, beschreibt Knofe seine Arbeit. Um so überraschender: Manche Mutter, mancher Vater bedanke sich sogar bei ihm. Oft folge ein Eingeständnis: Allein kriege man das Kind nicht aus den Federn. Woran es zwischen Tür und Angel freilich fehlt, ist Zeit, um das Problem grundsätzlich zu behandeln. Knofe kann bestenfalls ein Kärtchen mit den Hilfsangeboten des Allgemeinen Sozialen Dienstes der Stadt verteilen.

Dann platziert der kleine, drahtige Typ seine Begleiter auf der Rückbank des Kleinwagens. An der Tür leuchtet die Aufschrift „Ordnungsamt“. Manchem sei das peinlich, den meisten jedoch nicht. Die hätten andere Sorgen, beispielsweise, dass sie ihren Tabak oder die große Cola-Flasche vergessen haben. So etwas sei für ihn jedoch kein Grund umzukehren, betont Knofe. Sein Ehrgeiz: „Vor dem ersten Klingeln in der Schule zu sein.“ Nicht selten gebe es dort noch ein großes Hallo. Die Kumpel aus der Klasse wollen es meist nicht glauben, so seine bisherige Erfahrung, dass Schulschwänzer tatsächlich vom Ordnungsamt abgeholt werden. Vollbracht ist das Werk für Knofe aber erst, wenn die Schule die Ankunft des Schwänzers quittiert hat. Ob eine solche Aktion dauerhaft Eindruck hinterlässt, ist nicht klar - auch Knofe nicht. „Wenigstens gibt es bis jetzt keine Stammkunden.“ Allerdings komme es vor, dass Bummler erst als Grundschüler und später noch einmal in höheren Klassen vom Ordnungsamt gebracht werden müssen. Das sei natürlich kein gutes Signal.

Die Spitze des Eisberges

Ganz zu schweigen von der Dunkelziffer. Für Knofe ist dieses Wort nur „eine Umschreibung für einen Notstand“. Denn das Ordnungsamt erfahre längst nicht alles. Der 43-jährige Angestellte: „Was hier ankommt, ist in Akten niedergelegt.“ Fein säuberlich geordnet liegen die Mappen auf seinem Schreibtisch: Anträge, Vordrucke, Briefwechsel und Verfügungen. Man könnte es auch die Spitze des Eisberges nennen. 15 Jahre macht Knofe den Job schon. Dennoch steigt die Zahl der Schulschwänzer, selbst schon an Grundschulen.

Landesweit sollen, so Schätzungen von Wissenschaftlern, bis zu vier oder fünf Prozent der Schüler schwänzen. Allein in Halle sind seit Schuljahresbeginn rund 100 Verfahren hinzugekommen. Die Ursachen sind vielfältig. So spielten laut Knofe nicht selten Angst vor Leistungsversagen oder Versuche, aus der Bürgerlichkeit auszubrechen, eine Rolle. Dem Ordnungsamt bleibe wenig Spielraum. Alles sei bis ins Detail genau geregelt, wie auch bei anderen Ordnungswidrigkeiten, beispielsweise dem Falschparken.

Das merken Betroffene spätestens, wenn der Bußgeldbescheid im Briefkasten liegt. 2012 sei das in Halle 32 Mal passiert. Bei Ersttätern sind 80 Euro plus Gebühren fällig - mit einer Einschränkung: Schüler bis 14 Jahren dürfen nicht zur Kasse gebeten werden. In diesen Fällen müssen die Eltern zahlen - außer, sie wollen oder können es nicht, etwa als Hartz-IV-Empfänger. Dann helfen oft auch Strafandrohungen von bis zu 250 Euro nicht. Alternativ schlägt das Amt gemeinnützige Arbeitsstunden vor. Als Richtwert dient diese Faustregel: 80 Euro entsprechen zehn Arbeitsstunden in sozialen Projekten. Doch grau ist alle Theorie. Knofes Bilanz: Abgeleistet werden die Arbeitsstunden meist nur in 60 Prozent der Fälle.