Schicksal von Benjamin Schicksal von Benjamin: Ratlos nach Hungertod
Burg/MZ. - Die Pressekonferenz in Burg scheint symptomatisch für den Fall des im März 2005 verhungerten Benjamin: ein ewiges Hin und Her. "Herr Finzelberg, jetzt ist der Schwarze Peter gerade wieder bei Ihnen", ruft ein Journalist dem Landrat vom Jerichower Land nach einem Statement des Gerichts zu. Den Schwarzen Peter aber, den will zwei Tage nach dem Fund der Leiche des zweijährigen Jungen in Schlagenthin niemand haben. Weder Lothar Finzelberg (parteilos) noch Jugendamtsleiter Wilfried Werner und auch nicht Landgerichtspräsident Dieter Remus, der das Familiengericht vertritt.
Schon im August 2003, als Sandra S. und Daniel B. mit ihren Kindern ins Jerichower Land zogen, habe es erste Hausbesuche bei der Familie in Stresow gegeben, sagt Finzelberg. Die Hilfe zur Erziehung hätten die Eltern 2004 verweigert, regelmäßige Besuche des Jugendamtes habe es trotzdem gegeben. "Drei- bis viermal im Monat war ein Mitarbeiter dort", sagt der Jugendamtschef. Oft wurde er nicht ins Haus gelassen, einmal habe er sogar eine Morddrohung von B. erhalten. Anzeige erstattet wurde nicht.
Dafür habe es wegen Gefährdung des Kindeswohls im April 2004 den ersten Antrag und bis Oktober 2005 sechs weitere Anträge gegeben, den Eltern das Sorgerecht für ihre vernachlässigt wirkenden Kinder zu entziehen. Finzelberg: "Denen ist das Familiengericht nicht gefolgt." Eine akute unmittelbare Gefahr habe man nicht erkennen können, so Finzelberg. Nur die hätte das Amt nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz zum sofortigen Eingreifen berechtigt, sagt er.
Ebenso wie der Landrat verweist auch Landgerichtspräsident Remus auf das hohe Gut der Unverletzlichkeit von Familie und Wohnung. Die Familienrichterin und eine Gutachterin, die im April 2005 beauftragt wurde, hätten sich ein Bild der Zustände vor Ort gemacht, aber nicht derart katastrophale hygienische Bedingungen entdeckt, wie sie jetzt von Staatsanwaltschaft und Medien beschrieben wurden: verdreckt, verkotet, vermüllt. "Wenn wir kommen, dann ist aufgeräumt", so Remus. Das Gutachten lag nach sieben Besuchen erst im Februar 2006 vor und verneinte die Erziehungsfähigkeit der Eltern nicht, auch wenn es den Fall als "grenzwertig" bezeichnete. Bei einer Zwischenverhandlung im November 2004 wurden aber zwei Kinder - mit Einverständnis der Eltern - in Pflegefamilien gegeben.
Dass Benjamin irgendwann fehlte, war allen Behörden aufgefallen. Mal sollte er sich angeblich bei den Großeltern, mal bei der Schwester von Daniel B. aufhalten. "Da wurden Jugendamt und Gericht gelinkt", sagt Remus. Auch dass die Eltern sich in Stresow mit einem Kind mehr abmeldeten, als sie in Schlagenthin wieder anmeldeten, blieb unbemerkt. Wirklich überprüft wurden die Angaben der Eltern nie. Nur einmal soll es zu Lebzeiten des Jungen einen Anruf bei den Großeltern in Dessau gegeben haben, die versichert hätten, er sei wohlauf. Bei der Frage, warum dann über Monate niemand auf die Idee kam, sich persönlich von Benjamins Wohl zu überzeugen, wirkt Jugendamtschef Werner ratlos: "Wenn wir vorher gewusst hätten, was sich da abspielt..."
Nun prüft die Staatsanwaltschaft eine Mitschuld. "Wir ermitteln unter anderem, ob das zuständige Jugendamt versäumt hat, rechtzeitig einzugreifen und das Drama zu verhindern", sagte der Stendaler Oberstaatsanwalt Thomas Kramer. Sachsen-Anhalts Sozialminister Gerry Kley (FDP) kündigte eine Sonderberatung des Landesjugendamtes mit den Jugendämtern über vorsorgende Maßnahmen an. Er könne sich auch verbindliche Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern vorstellen, um Fälle von Vernachlässigung und Unterernährung zu verhindern, so Kley.