Schicksal einer 44-Jährigen Schicksal einer 44-Jährigen: Zurück im Leben nach neun Hirntumoren

Halle (Saale) - Was bei den Operationen mit meinem Kopf gemacht wurde, weiß ich nicht genau. Zumindest nicht ganz genau. Mein Schädel wurde aufgesägt - vom Haaransatz bis hinter das Ohr. 15 Zentimeter, vielleicht sogar mehr. Dann wurden die Tumore entfernt. Beim ersten Mal war es ein faustgroßer Tumor, beim zweiten Mal acht kleinere. Die Operationen dauerten jeweils sieben Stunden.
Was in dieser Zeit passierte? Ich habe keine Ahnung. Klar, ich war unter Narkose. Aber auch davor und danach hat es mich nie interessiert. Mir war nur klar, dass ich da jetzt durch muss. Eine andere Chance als die OPs hatte ich ja nicht. Ich war den Ärzten ausgeliefert. Was sie vorhatten, musste einfach klappen.“
Anja Walczak: „Ich habe versucht, meinen Mut und meinen Humor auch in den schwierigen Phasen zu behalten“
Anja Walczak sitzt, als sie von ihren Operationen erzählt, am Küchentisch ihrer Wohnung am Stadtrand von Halle. Vor ihr steht ein Pott Kaffee. Sie sieht munter aus, frisch, richtig gesund. Sie hat ein sonniges Gemüt, das merkt man nach wenigen Minuten. Und ihr Gesicht kennt anscheinend nur eine Grundeinstellung: Lachen.
„Ich habe versucht, meinen Mut und meinen Humor auch in den schwierigen Phasen zu behalten. Das war nicht immer einfach. Nach der ersten Operation ging es mir schlecht. Am 4. Januar 2006 war die. Etwa zwei Wochen zuvor bin ich einfach im Supermarkt umgefallen. Ein epileptischer Anfall. Im Magnetresonanztomographen (MRT) wurde dann der Tumor entdeckt. Linke Hirnhälfte, da wo auch das Sprachzentrum sitzt. Zwar war es ein gutartiger Tumor, aber er musste raus. Schon als der Anästhesist mich nach sieben Stunden weckte, wollte ich nur weiter schlafen. Es ging mir elend.“
Anja Walczak ist Journalistin. Sie arbeitet für das Fernsehprogramm des Mitteldeutschen Rundfunks, aber auch als Hörbuchsprecherin und freie Autorin. Sich selbst bezeichnet sie als Kontrollfreak. Nach der ersten Operation verliert sie jedoch die Kontrolle über ihren Körper. Eine ungewohnte Situation.
„Das Schlimmste war das Ausgeliefertsein. Nach der ersten OP war ich so abhängig von anderen. Ich konnte nichts mehr alleine machen und gefühlt waren alle in meinem Vierbett-Zimmer viel aktiver. Ich vergaß ständig Sachen, begann Sätze und führte sie nicht zu Ende. Wenn ich einen Text gelesen hatte, wusste ich zum Schluss nicht mehr, was am Anfang stand. Selbst bei kurzen Nachrichten ging mir das so. Mein Kopf funktionierte nicht mehr. Das war beängstigend.“
Walczak vergleicht Krankenhaus mit Autowerkstatt
Nach unten zieht Walczak in dieser Zeit auch der oft unpersönliche Krankenhausalltag. In der Klinik begegnet ihr eine besonders kühle Krankenschwester, die kein Wort mit ihr wechselt, nicht „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ sagt. Walczak gibt ihr einen Namen: die Kommandantin.
Sie will dabei nicht falsch verstanden werden: „Was Ärzte und das Pflegepersonal in Krankenhäusern leisten, ist großartig“, sagt Walczak. Vor 30 Jahren hätte ihr sicher nicht so geholfen werden können wie heute. „Allerdings hatte ich manchmal das Gefühl, dass ich nicht in einem Krankenhaus, sondern in einer Autowerkstatt bin, wo im Akkord Ersatzteile getauscht werden.“ Dabei wünsche sie sich gar nicht viel: „Mal ein ,Das wird schon wieder’ oder ,Sie machen das gut’ würde ja schon reichen.“
Eines Tages im Krankenhaus steht Walczak einfach aus ihrem Bett auf und läuft los. Sie will weg, irrt durch die Klinik und steht plötzlich vor einer Glastür. Dahinter sieht sie ein Kind. „Dieser Moment“, sagt die 44-Jährige, „war für mich ein Schlüsselerlebnis.“ Das Kind hatte keine Haare mehr auf dem Kopf. Schlagartig wurde ihr klar, wo sie gelandet war: auf der Kinderkrebsstation.
„Mir liefen Tränen über das Gesicht“, erzählt die Journalistin. „Ich dachte: Wenn dieses Kind es schafft, zu lächeln, dann bist du es ihm schuldig, zurückzulächeln.“ Das habe sie dann auch getan. „Seitdem ist für mich klar, dass ich auch anderen Mut machen und positiver mit ihrer Krankheit umgehen muss.“
Wenn Tumore fünf Jahre nicht zurückkommen, kann von Heilung gesprochen werden
Ihre Einstellung ändert sich, doch der Weg ist schwer. Nach dem Krankenhaus kommt die Reha. Langsam tastet sich Anja Walczak zurück ins Leben. Sie beginnt zu arbeiten, macht längere Reisen und blüht wieder auf. Und ihr Kopf macht mit. Die Ärzte sagen, wenn Tumore fünf Jahre nicht zurückkommen, kann von einer Heilung gesprochen werden. Diese Grenze überschreitet Walczak locker. Doch nach achteinhalb Jahren, bei einer Nachkontrolle im Sommer 2014, tauchen erneut Tumore auf. Diesmal sind es gleich mehrere. Drei werden beim MRT entdeckt, fünf weitere bei der Operation. Die Leidenszeit beginnt wieder von vorne. Doch diesmal ist alles anders.
„Vor der ersten Operation hatte ich mich über- und die Krankheit unterschätzt“, sagt die 44-Jährige rückblickend. Das sei ihr aber nicht noch einmal passiert. Die zweite Operation ging sie gelassener an und auch mit Humor. „Das klingt komisch, denn man kann so eine Erkrankung ja nicht weglachen“, sagt Walczak. Allerdings könne man sie mit einem Lächeln leichter ertragen.
Anja Walczak verarbeitet ihre Erlebnisse zu einem Buch
Ein Weg zu verarbeiten, ist das Schreiben. In der zweiten Reha beginnt die Autorin, ihre Erlebnisse zu Papier zu bringen. Sie verfasst Tagebucheinträge und verarbeitet diese zu einem Buch. Es wurde im Januar dieses Jahres veröffentlicht. Locker und mit Witz schildert sie den Alltag einer Kranken. Da ist die Szene mit dem Goldfisch. In der Zeitung liest sie, dass ein Exemplar namens Georg in Australien ein Tumor aus dem Kopf operiert wurde. Walczak fragt sich: „Wie merkt man überhaupt, dass ein Goldfisch einen Tumor hat? Gibt es da einen Mini-MRT?“
Für die Menschen, die ihr in dieser Zeit begegnen, erfindet sie Namen. Der muskelbepackte Pfleger wird zur Fee, weil er sie aus einer ausweglosen Situation rettet. Und der randalierenden Rentnerin, die mit ihrem E-Rollstuhl die Glastür der Reha-Klinik demoliert und anschließend mit Höchstgeschwindigkeit flüchtet, gibt Walczak den Namen „Glastür-Omi“.
In die lockere Erzählung werden auch die ernsten Episoden eingesponnen. Die Folgen der Krankheit sind immer wieder Thema. „Mein Gehirn hat sich durch die Eingriffe verändert“, sagt die Autorin. Die Hirnströme würden nicht mehr so fließen wie zuvor. Epileptische Anfälle werden so wahrscheinlicher. Dagegen gibt es zwar Tabletten, die bekam Walczak allerdings nach der zweiten OP erst einmal nicht. „Darüber war ich auch froh, denn die Medikamente machen müde und manchmal sogar benommen.“
Ohne Tabletten kommt sie allerdings nicht lange aus. Drei Monate nach der Operation, Mitte Oktober 2014, hat Wal-czak einen epileptischen Anfall. Zum Glück ist sie bei einem öffentlichen Vortrag. Genug Menschen um sie herum können helfen. Schlimme Verletzungen zieht sie sich zwar nicht zu, allerdings trifft sie zwei Entscheidungen: „Nach dem Anfall war mir klar, dass ich die Tabletten nehme und mich auch bestrahlen lasse.“
Anja Walczak: „Warum ich?“
Die Tumore im Kopf von Anja Walczak waren alle gutartig. Deswegen bestand nicht die Gefahr, dass sie in andere Bereiche ihres Körpers streuen. Trotzdem können sie wiederkommen. Um das zu verhindern, gibt es eine Strahlen-Therapie. Dabei wird das Gewebe, in dem sich die Geschwülste bilden, abgetötet. Sechs Wochen dauert die Behandlung. Nebenwirkungen sind Übelkeit, Kopfschmerzen und Haarausfall. „Ich hatte mich lange gegen die Bestrahlung gewehrt“, sagt Walczak. Zumal die Behandlung nur die Wahrscheinlichkeit neuer Tumore vermindere. 80 Prozent der Bestrahlungs-Patienten sind anschließend tumorfrei.
Anja Walczak reichen die 80 Prozent jedoch als Argument. „Und die Strahlen-Therapie war zwar nicht angenehm, aber auch nicht so schlimm, wie zuvor befürchtet.“ Selbst die Perücken seien eine spannende Erfahrung gewesen und brachten ihr sogar Komplimente ein. „Aber natürlich war ich froh, als meine eigenen Haare wieder wuchsen.“
Die Sicherheit, dass sie wirklich geheilt ist, die gibt es für Anja Walczak nicht. Sie muss mit ihrer Krankheit umgehen und mit der Gefahr neuer Tumore und möglicher Anfälle leben. Sie kann die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, nur so gering wie möglich halten.
„Warum ich? Jeder Kranke stellt sich irgendwann mal diese Frage. Für mich habe ich keine Antwort darauf gefunden. Ich habe nie geraucht, nie exzessiv getrunken oder gegessen. Auch erblich gibt es keine Vorbelastung. Es hat mich einfach getroffen - grundlos und nicht beeinflussbar. Aber letztlich ist dieses Warum eigentlich total egal. Ich habe viele Patienten getroffen, die sich selbst so bemitleideten, die so sehr mit sich haderten. Aber das bringt ja nichts. Man muss die Zeit nutzen, die einem bleibt. Bewusster leben. Und das mache ich jetzt. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. Würde ich morgen sterben, wüsste ich, dass ich am Tag zuvor gut gelebt habe. Nicht die Quantität entscheidet, sondern die Qualität. Das ist mir erst durch die Krankheit bewusst geworden.“
Anja Walczaks Buch „Feinde in meinem Kopf“ ist im Nymphenburger Verlag erschienen. Es hat 240 Seiten und kostet 20 Euro (gebunden).


