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"Es war unvorstellbar" "Es war unvorstellbar": Neun Jahre nach dem Erdrutsch am Concordiasee in Nachterstedt

18.07.2018, 13:46
MZ-Fotograf Frank Gehrmann hat das Unglück in  zahlreichen Bildern festgehalten. 
MZ-Fotograf Frank Gehrmann hat das Unglück in  zahlreichen Bildern festgehalten.  Andreas Stedtler

Frühmorgens gegen 4.45 Uhr passiert in Nachterstedt (Salzlandkreis) das Unfassbare. Nur Minuten nachdem an diesem Sonnabend, den 18. Juli 2009, die ersten Notrufe rausgehen, klingelt das Telefon von MZ-Fotograf Frank Gehrmann. Was er hört, klingt konfus. Hier berichtet er von seinen Erlebnissen am Tag des Unglücks am Concordiasee und der Zeit danach, ergänzt mit Fakten zu dem folgenreichen Vorfall.

Frank Gehrmann: Wenn dir jemand sagt, da ist was passiert, da soll ein Haus abgerutscht sein - in den See, überlegst du: Wie kann das sein? Du hast das Bild vor Augen. Da ist der Aussichtspunkt mit Informationsstand, Lok und Baggerschaufeln; die Häuser, die sind viel weiter weg. Aber da denkst du nicht weiter drüber nach, du musst erst mal los. Also packe ich - weil ich so gar keine Vorstellung habe, was gewesen sein könnte - die Gummistiefel ein und denke, gucken wir uns das mal an.

Es wäre gelogen zu sagen, man fährt da völlig ruhig hin. Da wird Adrenalin freigesetzt. Als meine Kollegin und ich ankommen, sind die Häuser evakuiert. Die Leute stehen da, völlig aufgelöst. Der Ortsbürgermeister (Siegfried Hampe, Anm. d. Red.) ist vor Ort, versucht, beruhigend auf sie einzureden. Auch die Seeland-Bürgermeisterin (Heidrun Meyer) eilt herbei. Die begreifen die Situation, glaube ich, auch nicht. Keiner weiß, was ist. Gibt es Verletzte? Gibt es Tote? Es ist alles offen. Es gibt keine wirklichen Fakten.

Die Fakten werden später klar: Es hat einen Erdrutsch gigantischen Ausmaßes gegeben. 4,5 Millionen Kubikmeter Erde sind in den Concordiasee gekracht. Der Aussichtspunkt, die Straße, eineinhalb Häuser und drei Menschen sind mit in die Tiefe gerissen worden.

Ich weiß, wir sind weit weg vom Geschehen. Die Rettungskräfte haben gesagt, ihr bleibt hier. Da wird mir bewusst, dass ein bisschen mehr passiert sein muss. Die Situation erschließt sich mir aber nicht gleich. Klar, die Leute weinen, aber du weißt nicht genau, warum. Dann kommt wer von der Feuerwehr und sagt, da vorn siehst du, was los ist. Das Haus - die Giebelseite - ist abgerissen. Und davor muss ja die Kante sein, wo es reingefallen ist. Und dann fängst du an zu überlegen: Wo ging der See los? Wo standen die Häuser? Du begreifst ein bisschen für dich, welche Dimensionen das hat.

Da gibt es ein Bild von Frau Meyer, wo sie - die Hände vorm Mund gefaltet - dasteht. Du merkst, wie es in ihr arbeitet. Ich probiere, die Emotionen einzufangen, die Sache nicht nur zu dokumentieren, sondern so darzustellen, wie ich sie empfinde, aber mit Feingefühl, um niemanden zu verletzen. Dafür ist man empathisch genug, um zu wissen, dass den Leuten was ganz Schlimmes passiert ist. Das ist auch für einen selbst eine Ausnahmesituation, aber das merkst du in dem Moment nicht, du funktionierst. Manchmal schämt man sich, dass man so unemotional reingeht.

Es gibt das Foto mit dem abgebrochenen Haus aus 150 Metern Entfernung, wo ich mir denke, das kann jetzt das Bild nicht sein. Dann fängst du an zu überlegen: Was kannst du machen, um heranzukommen? Aber es geht bis hier und nicht weiter. Im näheren Bereich haben wir keine Chance, wir fahren zur anderen Seeseite, gucken, ob mit dem Schiff was geht. Und da ist der Schock groß.

Die Erdmassen haben eine Flutwelle, eine Art Mini-Tsunami, ausgelöst. Sie hat das gegenüberliegende Ufer getroffen. Das Fahrgastschiff, die Seelandperle, liegt angespült an Land.

Das Nächste, was dir einfällt, wenn du nicht näher rankommst, aber zeigen willst, was da für eine Gewalt geherrscht hat, sind Luftaufnahmen. Wir rufen in einer Flugschule an - und bekommen einen Flug. Als ich später mit den Bildern zurückkomme, wollen sie die Einsatzkräfte gleich sehen. Da wird mir erst mal klar, die kennen die Ansicht ja selbst noch nicht. Wir haben die ersten Luftaufnahmen von der Unglücksstelle. Mittlerweile ist klar, dass drei Leute vermisst werden. Es geht darum, ob man auf den Bildern was erkennt, was darauf hindeuten könnte, wo sie sind. Wir vergrößern die Ausschnitte - auf der Kamera, am Laptop, aber da ist nichts, was weiterhelfen würde. An Rettungskräften ist jetzt alles mobilisiert, was geht.

Der Katastrophenschutz baut ein Notlager auf. In der Situation sieht man, dass in einer realen Lage klappt, was man bei so vielen Übungen erlebt hat, dass die Abläufe sitzen, den Leuten innerhalb kurzer Zeit geholfen wird und auch emotionaler Beistand da ist. Sie wissen ja nicht, wie es weitergeht, ob sie alles verloren haben - wie sich hinterher herausstellen wird -, sie noch mal in ihre Häuser dürfen. Es ist aber ein gutes Gefühl, zu sehen, dass alles funktioniert. Das will ich auch darstellen und am liebsten überall zur gleichen Zeit sein. Wobei von vornherein klar ist, dass das so nicht geht. 

So war, als wir in der Luft waren, noch mal ein kleiner Tross zur Kante vorgegangen. Und dann denkst du: Mist! Wenn du dagewesen wärst … Das mit der Kante klappt trotzdem, von der anderen Seite aus. Wir dürfen mit einer Polizeistreife mitfahren, die Verbindungsstraße entlang von Frose nach Nachterstedt - bis dahin, wo sie abgebrochen ist. Auf eigene Gefahr. Das sagen die auch: Wenn du fotografieren willst, steig aus, mach! Aber dein Risiko. Zum ersten Mal können wir die Gewalt an sich sehen, da ist alles weg.

Die Böschung der ehemaligen Braunkohlegrube Concordia ist auf 350 Metern Länge komplett abgebrochen und teilweise in den See gestürzt.

Du kommst gar nicht umhin zu versuchen, dich in die Leute hineinzuversetzen. Die Geschichten kommen so nah an einen ran. Du stehst mit den Betroffenen da, mit den Verwandten, sie erzählen. Und dann kommen so Sachen raus: Es gab eine Party in einem der abgerutschten Häuser. Kurz vor dem Unglück waren die Jugendlichen zum Bahnhof aufgebrochen. So schlimm, wie alles ist, dass es überhaupt Todesfälle zu beklagen gibt, aber das Ganze hätte noch wesentlich schlimmer kommen können.

In den folgenden Wochen berichtete die Mitteldeutsche Zeitung täglich aus Nachterstedt.

In dem Job kommst du nicht dazu, abzuschließen. Es gab so viele Geschichten im Nachgang. Hochbewegend, ich weiß es wie heute, war der Trauergottesdienst.

300 Menschen waren in der Kirche, etwa genauso viele standen davor. Pfarrer Holger Holtz wollte inmitten des Leides auch die Zeichen der Hoffnung verstanden wissen.

Das war Gänsehaut pur, richtig heftig. Dann kamen die Leute raus, gingen zur Unglücksstelle, und es gab genau über der Kirche einen so satten Regenbogen. Eben war noch die Rede von Hoffnung, davon, dass das Leben weitergeht ... Diese Symbolik, und alle haben es gesehen! So was ist, wenn du es in dir aufnehmen und auch noch im Bild festhalten kannst, bewegend.

Frank Gehrmann hat viele Unglücke auf Fotografien festgehalten - Verkehrsunfälle, Brände, Stürme. Er hat gesehen, was Naturgewalten anrichten können. Doch nichts davor und danach kam an Nachterstedt ran.

Es war eine Katastrophe, die unvorstellbar war. Ein Unfall kann immer passieren. Wenn du hinfährst, rechnest du mit allem, weil du weißt, was ein Unfall bedeuten kann. Aber hier? Gerade hatten wir berichtet, was sich touristisch entwickelt. Und dann so ein Tiefschlag, der auch so viel menschliches Leid mit sich gebracht hat. Das ist einzigartig, vom medialen Interesse her, aber auch, wie es einen berührt, wie tief es sich eingebrannt hat.

41 Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. Die Wohnsiedlung wurde im Jahr 2013 abgerissen. Viele ehemalige Bewohner sind weggezogen, etwa die Hälfte blieb im Ort.

Ich bewundere die, die noch in Nachterstedt sind. Sie werden immer, wenn sie am Sperrgebiet, vorbeikommen, mit ihren Emotionen konfrontiert. Ich denke ja auch manchmal daran. Wenn du mal - wie neulich - aufs Gelände darfst, versuchst du schon, dir vorzustellen, wie das ausgesehen hat. Du kriegst es nicht mehr hin. Die Kopfsteinpflaster gibt es noch, aber den Rest hat sich die Natur zurückgeholt. Da merkst du, dass die Zeit - ich will nicht sagen, die Wunden heilt -, darüber hinweggeht und alles im wahrsten Sinne auslöscht, nicht in den Gedanken. Aber von dem, was da war, ist nichts übrig.

Inzwischen heißt es, dass der See im kommenden Jahr teilweise wieder freigegeben werden soll.

Ich hoffe für die Region, dass das Tourismuskonzept am Ende aufgehen wird. Die, die da gewohnt haben, hatten die Idee von einem florierenden See, die hatten die Idee, einen See vor der Haustür zu haben, den sie nutzen können. Es ist anders gekommen - durch etwas, mit dem niemand rechnen konnte, das niemand wollte. Vielleicht wäre es im Sinne derjenigen, die sich bewusst für diesen Wohnort entschieden hatten, dass der See eines Tages wieder genutzt werden kann - immer im Hinterkopf habend, dass das unter harten Verlusten erkämpft wurde. Es muss sich gelohnt haben, dass die Sache so passiert ist. Ich finde es falsch zu sagen, wir gehen nicht baden, wo so was passiert ist. Es gibt viele Regionen, in denen Schlimmes geschehen ist, bis hin zu Kriegen. Deshalb zu sagen, wir nutzen die nicht mehr? Das ist ein falsches Zeichen. Zumal hier niemand etwas dafür konnte. Da ist nie vorsätzlich etwas gemacht worden, um das zu riskieren. Katastrophen gab es immer und wird es immer geben.

Der persönliche Bericht wurde aufgezeichnet von MZ-Redakteurin Susanne Thon, die damals mit Frank Gehrmann aus Nachterstedt berichtete.  (mz)