Erdrutsch 2009 Erdrutsch 2009 Concordia See Nachterstedt: Imke Wiesenberg verlor vor zehn Jahren ihren Mann Thomas Holzapfel-Saalfeld

Nachterstedt - Im Sommer lenkt Imke Wiesenberg ihre Schritte jeden zweiten, dritten Tag zum Friedhof in Nachterstedt. Sie zupft ein paar welke Geranienblüten von den Pflanzen, die rot und weiß auf der Grabstelle von Thomas Holzapfel-Saalfeld blühen.
Dabei ist der Friedhof nicht der Ort, an dem die 44-Jährige trauert. Denn das Grab ist leer. Der tote Körper ihres Mannes, der in den frühen Morgenstunden des 18. Juli 2009 Opfer des gewaltigen Erdrutsches am ehemaligen Tagebau geworden ist, konnte nicht geborgen werden. Er ruht irgendwo im Concordia See, auf dem die Hoffnung einer ganzen Region liegt.
Die Leiche ihres Mannes konnte nicht geborgen werden
Ein Grab sollte er trotzdem haben - so wie jeder, der stirbt. „Es ist nach außen ein Zeichen, eigentlich sollte das mein Trauerort werden, aber das Grab ist mir zu unpersönlich“, sagt sie. Tatsächlich erzählt der dunkle Stein nichts über die Tragödie von Nachterstedt, die zur ganz persönlichen Tragödie von Imke Wiesenberg geworden ist.
Der damals 50-jährige Thomas Holzapfel-Saalfeld, Pfleger in der Notfallaufnahme des Krankenhauses, starb neun Monate, nachdem die beiden kirchlich geheiratet hatten. Für ihn war es die zweite Ehe, das Haus Am Ring hatte er Anfang der 90er Jahre gekauft und renoviert.
Am frühen Morgen, als das Unglück geschah, hatte Imke Holzapfel Nachtdienst im Krankenhaus. Ihren Mann hatte sie am Abend zuvor noch gesehen - er hatte sie im Dienst besucht und ihr wie immer das Essen gebracht.
Eltern kamen aus Hamburg nach Nachterstedt, um ihrer Tochter beizustehen
Als sie das Telefon gegen 5.30 Uhr aus dem Schlaf riss, ahnte sie noch nicht, dass ihr bisheriges Leben in diesem Moment zu Ende ist. Die nächsten Stunden verbrachte sie wie im Nebel - erst in einem Einsatzfahrzeug, später in der Turnhalle. Ihre Eltern eilten aus Hamburg nach Nachterstedt, um ihrer Tochter beizustehen.
„Thomas war für sie wie ein Sohn. Ihre eigene Trauer und ihr eigenes Leben haben sie drei Monate lang auf Eis gelegt. Weil sie stark sein wollten. Für mich“, sagt sie voll Dankbarkeit. Dankbar ist sie auch, dass der Leichnam nicht gefunden wurde.
„Er hat den See geliebt, immer an das Potenzial des Gewässers geglaubt und hat dort seine Ruhe gefunden“, denkt sie. An Gegenständlichem ist ihr nicht viel geblieben: ein Foto, das sie im Portemonnaie bei sich trug. Und ein paar Kleidungsstücke, die er bei ihren Eltern hatte.
Psychotherapeuten und Ärzte halfen Imke Wiesenberg, den Verlust zu bewältigen
Zehn Jahre nach dem Unglück, das zwei weitere Menschen das Leben und 41 das Zuhause gekostet hat, trägt die Ärztin noch immer schwer an einer Last, die ihr niemand nehmen kann.
Psychotherapeuten und Ärzte, bei denen sie noch heute regelmäßig in Behandlung ist, können lediglich dabei helfen, die Bürde zu tragen. Aus Wissen und Erfahrung als Ärztin suchte sie früh professionelle Hilfe und bezeichnet das als wichtigen Schritt, die Geschehnisse zu verarbeiten.
Sie wohnt noch immer in Nachterstedt - anfangs, weil sie die Nähe zu ihrem verunglückten Mann suchte. Heute ist sie neu verheiratet, hat durch ihre zweite Ehe mit dem ebenfalls zum zweiten Mal verheirateten Kantor Thomas Wiesenberg eine große Familie „mit tollen Kindern und Enkeln“ hinzugewonnen.
Durch ihre zweite Ehe hat Wiesenberg eine große Familie „mit tollen Kindern und Enkeln“ hinzugewonnen
Doch die Normalität wird immer wieder unterbrochen durch Phasen, in denen es ihr schlecht geht. Einige Einstellungen zum Leben haben sich verändert, sagt sie. Dass das Leben nicht planbar ist, gehört zu den schmerzlichen Erkenntnissen. „Man kann sich etwas wünschen“, sagt sie, „muss aber akzeptieren, wenn es anders kommt.“
Für Imke Wiesenberg ist es unerträglich: auf der einen Seite Freizeitsportler, auf der anderen Seite das gesperrte Ufer
Der vergangene Sonnabend, als das Nordufer des Concordia Sees nach zehn langen Jahren wieder eröffnet wurde, war für Imke Wiesenberg schwer zu ertragen. „Es mag irrational sein, aber ich bekomme die beiden Ereignisse Eröffnung und zehn Jahre Erdrutsch einfach nicht zusammen“, sagt sie.
Sie hätte es respektvoller gefunden, mit der Eröffnung noch zu warten. Auch hätte sie ohnehin erst wiedereröffnet, wenn die Sanierung abgeschlossen ist. „Aber ich weiß um den Druck, der auf den Verantwortlichen lastet und um die Bedeutung für den Tourismus.“
Trotzdem sei es für sie unerträglich: auf der einen Seite Freizeitsportler, auf der anderen Seite das betroffene Ufer. „Bis zur Eröffnung hatte ich nicht das Gefühl, dass der See wie ein Grab ist. Jetzt schon. Den See zu nutzen, ist für mich daher ausgeschlossen.“ (mz)
