Förderschule "Hans Klein" Besuch in der Förderschule für traumatisierte Kinder in Belleben im Salzlandkreis

Aufgeregt streift Hanna die neonfarbenen Ohrschützer vom Kopf. Haarsträhnen hängen ihr wild ins Gesicht. Sie stellt sich vor Sebastian Konrad auf, kneift die Augen etwas zusammen - volle Konzentration: „Herr Konrad, das Wort heißt Rudi“, sagt die Achtjährige dann und schaut erwartungsvoll auf ihren Lehrer. Und der schaut zurück als hätte er gerade im Lotto gewonnen. „Richtig, Klasse gemacht“, sagt Konrad zu seiner Schülerin.
15 Minuten zuvor hatte er ihr die Aufgabe gegeben, das Wort zu erlesen - ganz allein, ohne Hilfe. „Damit hast Du dein Tagesziel erreicht“, meint Konrad. Hanna flitzt fröhlich aus dem Raum.
Ein Wort in 15 Minuten – für Schüler der Integrationsklasse in Belleben (Salzlandkreis) ist das bereits ein Erfolg. „Wir gehen hier ganz kleine Schritte“, sagt Sebastian Konrad. Neben Lesen und Rechnen sei es wichtig, dass die Kinder überhaupt Spaß am Lernen bekommen.
Einmaliges Schulprojekt in Sachsen-Anhalt
Die Klasse von Konrad ist einmalig in Sachsen-Anhalt. Sie gehört zur privaten Förderschule „Hans Klein“. Die Schule liegt am Rand von Belleben und bildet mit ihren mehreren Gebäuden eine Art Dorf im Dorf. Hierher kommen derzeit 107 Kinder, die Defizite in ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung haben. Kinder also, deren Gefühlswelt so durcheinander geraten ist, dass sie einem normalen Unterricht nur schwer folgen können. In Belleben sollen sie nun lernen, wie man lernt.
Hanna etwa, deren Name ebenso wie alle folgenden Kindernamen geändert ist, leidet unter einem fetalen Alkoholsyndrom. Während der Schwangerschaft hat ihre Mutter Alkohol getrunken, was sich auf Hannas Entwicklung bis heute auswirkt. „Sie ist eineinhalb Jahren bei uns und hat erst jetzt begonnen, Wörter zu lesen“, sagt Lehrer Sebastian Konrad. Auch ihre Merkfähigkeit sei extrem gering. „Was sie gelernt hat, vergisst sie ziemlich schnell.“
2014 wurde die Spezialklasse in Belleben gegründet. „Wir merkten damals, dass es Schüler gibt, die zu keinerlei Unterricht in der Lage sind“, sagt René Nowak. Er ist der Schulleiter in Belleben, seit über 20 Jahren dabei. „Es geht um Kinder, die so heftige Traumata erlitten haben, dass man mit ihnen bei den grundlegenden Dingen anfangen muss“, erklärt Nowak. Statt am Lehrplan werde mit den Kindern an deren Gruppenfähigkeit, Konzentration oder Frustrationstoleranz gearbeitet. „Das steht im erst einmal Vordergrund.“
Förderschule für traumatisierte Kinder im Salzlandkreis: Rechenaufgaben im Sportunterricht
Um diese Fähigkeiten zu entwickeln, kümmern sich in der Integrationsklasse neben Lehrer Sebastian Konrad noch vier Betreuer um die acht Kinder. Viel Personal. Aber auch notwendiges Personal, wie sich bereits am Morgen zeigt. Da ist Sportunterricht, die Halle fünf Minuten zu Fuß entfernt. Die Kinder balancieren über Bänke, üben Vorwärtsrolle. Dabei stellt ihnen Konrad Rechenaufgaben. „In einer anderen Umgebung akzeptieren sie das besser“, sagt er. Und die Verknüpfung von Bewegung und Denken aktiviere zudem viele Hirnareale.
Auf dem Rückweg dann beginnt der Stress. Emma, acht Jahre alt und von Turnbeutel bis Haarspange in Rosa gekleidet, fühlt sich plötzlich ungerecht behandelt. Sie will nicht zurück in die Unterrichtsräume. Trotzig versteckt sie sich hinter einer Hausecke. „Das dauert jetzt eine Weile.“ sagt Erlebnispädagogin Carmen Brzenczek. Doch sie spielt das Geduldsspiel mit. „Weil wir zu viert sind, können wir das machen“, sagt sie.
Traumatisierte Kinder werden im Salzlandkreis unterrichtet: Gewalt auf der Straße erlebt
Allerdings sei das immer eine Abwägungssache. Emma kommt aus einer aggressiven Umgebung und hat viel Zeit auf der Straße verbracht. Den eigenen Willen durchsetzen, auch mit Gewalt - das hat sie früh gelernt. Deswegen müsse man ihr in solchen Situationen Zeit geben, sich zu beruhigen. „Wir könnten sie jetzt in das Haus zwingen, aber das würde nicht ohne Gegenwehr gehen“, sagt Carmen Brzenczek. Und dann wäre auch der Rest der Gruppe gleich durch den Wind.
Doch dieses Entgegenkommen gibt es nur punktuell. Sonst achten Sebastian Konrad und sein Team auf Regeln, feste Strukturen und gleiche Abläufe. „Diese äußere Ordnung führt auch zu einer inneren Ordnung“, sagt der Lehrer. Dreimal am Tag setzen sich alle zusammen. Dann essen sie gemeinsam und werten die letzten Stunden aus. Wie pünktlich war jeder, wie kameradschaftlich und leistungsbereit. Über ein Belohnungssystem können so Smileys verdient werden. Wer nach einem Monat 14 lachende Gesichter hat, darf mit zum Fahrradausflug an die Saale. „Wer das nicht schafft, kommt natürlich auch mit – aber er muss dann ganz nah bei den Betreuern bleiben“, sagt Pädagogin Diana Weiland.
Dieses Schicksal wird wohl Ben ereilen. Der Sechsjährige hängt bei den Smileys hinterher. Er ist noch nicht lange in der Gruppe. Seine Eltern sind drogenabhängig, ließen ihn schon als Baby in einer Art Verschlag wohnen und kümmerten sich nicht um ihn. „Dabei sind es die ersten Lebensjahre, in denen wir die Beziehungsfähigkeit aufbauen, die auch für das Lernen so wichtig ist“, sagt Konrad. Ohne Bindung keine Bildung. Fehlen festen Strukturen, entsteht eine Unsicherheit, die alles überlagert. Bei Ben zeigt sich das in einer ständigen Unruhe. Er ist hibbelig, so aktiv wie ein Duracell-Hase. Und er schiebt sich immerzu ins Blickfeld der Betreuer. Wer unsichtbar war, möchte eben gesehen werden.
Im schulischen Bereich ist Ben pfiffig. Er schreibt schon, kann sich nur nicht lange konzentrieren. Nachdem er das Wort „Nadel“ in sein Heft geschrieben hat, springt er auf und beginnt eine Nadel zu suchen. „Ben ist total verspielt und gehört eigentlich in den Kindergarten“, sagt Sebastian Konrad. Doch keine Einrichtung wollte ihn aufnehmen. Deswegen wurde er eingeschult. Nach 25 Minuten ist bei Ben die Konzentration aufgebraucht. „Der muss jetzt raus an die Luft“, sagt sein Lehrer.
Unterricht an der Förderschule für traumatisierte Kinder im Salzlandkreis auch mal im Freien
Draußen sein, sich bewegen – das ist ein zentrales Element der Integrationsklasse. Zwei Schüler waren am Vormittag mit dem pädagogischen Mitarbeiter Ulf Littmann im Wald unterwegs. „Dort haben wir Akazien und Birken gesehen“, sagt einer der Jungen stolz. Daran erinnere er sich. Ein kleiner, großer Erfolg.
Mit seinen Schülern hat Sebastian Konrad angefangen, Inlineskates zu fahren. Ein Hobby von ihm. Für die Kinder ist das ein Training eine Möglichkeit in Balance zu kommen - äußerlich, wie innerlich. Besonders gut beherrscht Jan das Rollschuhfahren. Er ist zwölf Jahre alt und am längsten in der Spezialklasse. Seine Mutter hat ihn als Baby abgegeben, sein Vater ist Alkoholiker. Als Kleinkind erlebte er ihn ständig im Rausch. Wenn er dann schlief, deckte Jan ihn zu und brachte ihm Wasser. Er sorgte für ihn, wo er selbst hätte umsorgt werden müssen.
Jan hat oft explosive Aggressionsausbrüche. Er bekommt Medikamente, die aber noch nicht richtig eingestellt sind. Doch wenn er mit seinen Inlineskates über den Schulhof schwebt, scheint das ganz weit weg. Er rollt, alles ist im Fluss, das Leben für kurze Momente im Gleichgewicht. Und diese Balance zu halten, sich zu stabilisieren – das ist das Ziel.
„Unsere Schüler sollen in Projektklassen kommen, wo schon mehr Unterricht gemacht wird“, sagt Sebastian Konrad. Wann es für jeden soweit ist, werde individuell entschieden. Ein Schüler probt gerade den Wechsel. Die ersten Tage laufen gut.
So geht es voran, aber oft auch wieder zurück. Bei der letzten Auswertungsrunde des Tages fragt Sebastian Konrad die achtjährige Hanna, ob sie das Wort noch weiß, das sie sich erlesen hatte. Sie schüttelt den Kopf und schaut, als würde sie nicht einmal mehr wissen, dass sie überhaupt ein Wort erlesen hat. „Das ist sofort wieder weg“, sagt Konrad. Enttäuscht klingt er aber nicht. Für ihn ist das vor und zurück alltäglich. Und überhaupt: Einen Schritt nach vorne gemacht zu haben, das sei ja schon ein Erfolg. (mz)

