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Sachsen Sachsen: Tage der Trauer und des Zorns

Von Alexander Schierholz 29.05.2008, 18:02

Leipzig/MZ. - Erst kippt nur der Dachreiter zur Seite. Dann sackt das Gebäude in sich zusammen. Übrig bleibt eine haushohe Staubwolke. Gottfried Wolff hat alles im Bild festgehalten. Heute vor 40 Jahren hat der damalige Pfarrer von Holzhausen bei Leipzig auf den Auslöser gedrückt, als die Staatsmacht die Leipziger Universitätskirche sprengen lässt.

Viele in Leipzig ahnen in den 60er Jahren schon lange, dass die den SED-Oberen verhasste Paulinerkirche weg soll. Auch Wolff. Über Jahre wabern Gerüchte durch die Stadt, mal ist von Abriss die Rede, mal von einer Verschiebung hinter den geplanten Neubau der Universität am damaligen Karl-Marx- und heutigen Augustusplatz. Weil sie es genau wissen wollen, sprechen Wolff und ein Kollege zwei Jahre lang immer wieder bei Stadtbaudirektor Walter Lucas vor. "Die Gespräche waren ergebnislos, aber freundlich", erinnert sich der heute 78-Jährige, "bis im Frühjahr 1968 die Stimmung plötzlich kippte." Es sei eine Entscheidung getroffen worden, bescheidet Lucas die beiden Geistlichen barsch. Welche, sagt er nicht. "Da wussten wir, die Kirche wird fallen", sagt Wolff.

Der Krieg hat das mehr als 700 Jahre alte Gotteshaus verschont, doch den SED-Oberen ist es ein Dorn im Auge, es steht ihren Plänen von einem sozialistischen Stadtzentrum mit sozialistischer Universität im Wege. Schon 1960 erklärt Staats- und Parteichef Walter Ulbricht bei einem Besuch in Leipzig: "Das Ding muss weg!" Doch es soll noch Jahre dauern, bis der Stadtrat am 23. Mai 1968 die Sprengung abnickt.

Es ist Himmelfahrt, der Tag, an dem Leipzigs Protestanten und Katholiken in letzten Gottesdiensten Abschied nehmen von der Paulinerkirche. Zum Ärger der Staatsmacht. "Zunächst hat man uns den Zutritt verwehrt", erinnert sich Charlotte Stuhr aus Aschersleben. Damals ist sie junge Ärztin und Mitglied der katholischen Propsteigemeinde, schon als Studentin hat sie die Kirche regelmäßig besucht. Nun zum letzten Mal. Danach kommen in den Tagen bis zur Sprengung täglich Tausende auf den Karl-Marx-Platz. Sie sind wütend, traurig und hilflos. "Wir hatten das Gefühl, da geschieht großes Unrecht, aber wir können nichts tun", schildert Stuhr. Auch unter den Leipziger Pfarrern macht sich ein Gefühl der Ohnmacht breit, wie Wolff sich erinnert. "Wir hätten Protestgottesdienste abhalten können, aber das hätte die Situation doch nur weiter angeheizt."

Dennoch bleibt Wolff nicht untätig. Nach dem Ratsbeschluss zur Sprengung schreibt er einen Protestbrief an den Oberbürgermeister, auf den er natürlich nie eine Antwort erhält. Und er steigt am 30. Mai auf den Turm der Thomaskirche, um die Sprengung heimlich zu fotografieren. "Ich wollte diese Schandtat ein für alle Mal dokumentieren." Angst, sagt er, habe er nicht gehabt. "Ich persönlich habe bei der Stasi immer einen gewissen Respekt vor Pfarrern erlebt."

Dennoch weiß der Geistliche genau, dass auch er beobachtet wird. Am Nachmittag nach der Sprengung nimmt er in einem Trauergottesdienst Bezug auf die Unikirche. Wochen später lädt ihn die Abteilung Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes vor. "Es gibt Pfarrer, die beerdigen nicht die Toten, sondern eine Kirche", erklärt man ihm dort. "Da wusste ich, es muss jemand mit in der Messe gesessen haben", sagt Wolff. "Giftspinne" heißt das Stichwort, unter dem die Stasi ihre Informationen über ihn sammelt. Das erfährt er nach der Wende.

Für Wolff, der heute in Möser bei Magdeburg lebt, ist die Kirchensprengung "eine der schlimmsten Depressionen, die ich je erlebt habe". Auch wegen seiner persönlichen Bindung an das Gotteshaus. Dort hat er Orgelunterricht gehabt und 1953 als Student seine erste Probepredigt gehalten. Umso mehr bedauert Wolff es, dass die Paulinerkirche nicht wieder aufgebaut wird. Stattdessen soll eine Aula entstehen, die die Silhouette der Kirche aufnimmt. Charlotte Stuhr tröstet das ein wenig: "Es muss einen Gedenkort geben."