Sachsen Sachsen: Ein Abgrund aus Hass

DRESDEN/MZ. - Ein schmächtiger Mann, ganz in Schwarz gekleidet, sitzt auf der Anklagebank, Hände und Füße in Fesseln. Vier kräftige Sicherheitsbeamte hocken direkt hinter ihm. Keine Frage der Vorsitzenden Richterin Birgit Wiegand beantwortet er. Nur zögernd legt er Kapuze, Sturmhaube und Mütze ab. Die Brille will er aufbehalten. Alex W., Russlanddeutscher, geboren am 12. November 1980 in Perm (Russland), angeklagt wegen Mordes, macht nicht mit. Er macht sich klein. Er will die Wirklichkeit nicht an sich ranlassen. Richterin Wiegand verhängt 50 Euro Ordnungsgeld, wegen der Brille.
Es ist ein besonderer Prozess, der am Montag in Dresden in Raum 0.84 des Landgerichts begonnen hat. Französische, arabische, russische Dolmetscher, Anwälte und Journalisten sind im Raum. Ein Tross der ägyptischen Botschaft aus Berlin beobachtet, was im alten Landgericht an der Elbe vor sich geht. Die Tat, die verhandelt wird, hatte Entsetzen und wütende Proteste in arabischen Ländern hervorgerufen.
Staatsanwalt Frank Heinrich trägt die Anklageschrift vor. Er wirft dem 28-Jährigen heimtückischen Mord vor. Am 1. Juli dieses Jahres erstach Alex W. die 31-jährige Apothekerin Marwa El-Sherbini im selben Gericht. Sie hatte als Zeugin in einem Beleidigungsverfahren gegen ihn ausgesagt. Alex W. hatte sie im Sommer 2008 auf einem Dresdner Spielplatz als "Schlampe", "Islamistin" und "Terroristin" beschimpft. Als El-Sheribini am Vormittag des 1. Juli ihre Aussage beendet hatte, war der Angeklagte aufgesprungen und hatte auf sie eingestochen, 16 mal in kürzester Zeit. Das Küchenmesser hatte er in einem Rucksack ins Gericht geschmuggelt. Ehemann Elwy Ali Okaz, ebenfalls im Gericht, ging dazwischen und wurde lebensgefährlich verletzt. "Die Opfer konnten sich nicht wehren", sagt Staatsanwalt Heinrich. Das Motiv sei "bloßer Hass auf Nichteuropäer und Moslems" gewesen, denen Alex W. kein Lebensrecht in Deutschland zugebilligt habe. Ein Beleidigungsverfahren, wie es täglich Dutzende an deutschen Gerichten gibt - in Dresden war daraus ein blutiges Drama geworden.
Das Dresdner Gericht ist zur Festung umgebaut worden. Es gab "abstrakte Mordaufrufe" gegen den Angeklagten. Eine dicke Panzerglaswand trennt im Verhandlungssaal Gericht und Publikum, 200 Polizisten und Scharfschützen bewachen das weithin abgeriegelte Gericht. Wer hinein will, wird abgetastet, muss seine Schuhe ausziehen. Im Foyer steht der ägyptische Botschafter Ramzy Ezzeldin Ramzy. Was das ägyptische Volk erwarte, wird er gefragt. "Die Höchststrafe, so schnell wie möglich", antwortet der Mann im dunklen Anzug. Journalisten aus aller Welt beobachten das Verfahren. "Ist das hier immer so?", fragt eine ägyptische Fernsehmoderatorin. Sie deutet auf die Polizisten mit Maschinenpistolen, auf die Sicherheitsschranken, die Absperrungen. "Nein, nur in diesem Fall", antwortet ein deutscher Journalist. "Nur, um den Angeklagten zu beschützen?", fragt die Fernsehfrau. "Nein, um alle zu beschützen." Zwischen ihren Worten klingt ein leiser Vorwurf mit: Für den Mörder tut man das, für die Ermordete hat man nichts getan.
Gegen Mittag unterbricht Richterin Wiegand den Prozess. Die Verteidiger haben einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht gestellt. "Die einzigartigen Umstände des Falles rechtfertigen keinen Glauben an die Unbefangenheit des Gerichtes", argumentiert Anwalt Michael Sturm. Die Tat passierte im Gericht, die als Zeugen geladenen Juristen kennen die verhandelnde Kammer. "Ich spürte förmlich die Zielfernrohre der Scharfschützen auf meiner Haut. Das ist nicht der Boden, auf dem Gerechtigkeit gedeihen kann", sagt sein Kollege Veikko Bartel über die "Gefahr für alle Beteiligten". "Absurd begründet", kommentiert der Staatsanwalt die Argumente. "So etwas habe ich in 15 Jahren Tätigkeit nicht gehört."
Der Antrag wird abgelehnt. Alex W. hockt auf seinem Stuhl, die Hände vor dem Gesicht. Er will nichts sagen. "Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt", sagt sein Anwalt.
Elwy Ali Okaz, der Ehemann des Opfers, sagt aus. Auf Krücken schleppt er sich in den Zeugenstand. 32 Jahre alt, Doktorand am Dresdner Max-Planck-Institut. 2004 war er nach Deutschland gekommen, 2005 seine Frau. Ihr Sohn kam in Dresden zu Welt. Er schildert auf Arabisch, was im Sommer 2008 auf dem Spielplatz geschah, was ihm seine Frau berichtet hatte. Alex W. saß auf einer Schaukel, wollte sie nicht freimachen für El-Sherbinis Sohn. Wenn das Kind auf die Schaukel steige, werde er es schaukeln bis es tot sei, soll Alex W. ihr gesagt haben. "Was macht ihr in Deutschland?", soll er ihr zugerufen haben. Ein Mann auf dem Spielplatz gab ihr ein Handy, um die Polizei anzurufen. Er soll Alex W. zurechtgewiesen haben. Frauen, die ebenfalls dort waren, redeten auf Russisch auf Alex W. ein. Die Polizei kam, schickte ihn vom Spielplatz, erstattete Anzeige.
Elwy Ali Okaz wollte mit seiner Familie in Deutschland bleiben. Oder irgendwo in Europa. Er als Wissenschaftler, sie als Apothekerin. "Das war unser Plan."
Er schildert die Tat im Gericht. Es ging alles sehr schnell. Er dachte, seine Frau werde geschlagen, er ging dazwischen, merkte plötzlich, dass er aus dem Mund blutete. Er sah das Messer gar nicht. Dann brach er zusammen, wurde versehentlich von einem herbeieilenden Polizisten für den Täter gehalten und ins Bein geschossen.
Okaz lag drei Monate im Krankenhaus, musste zweimal operiert werden. Wann er wieder arbeiten kann, steht in den Sternen. Wie es seinem Sohn gehe, fragt die Richterin, Mustafa, drei Jahre alt, der die Bluttat im Gericht mit ansehen musste? "Er vermisst seine Mutter. Er leidet", sagt der Vater.
Alex W. verbirgt sein Gesicht, hat die Kapuze hochgezogen, schweigt.