Europa-Parlament „Wir bieten Putin die Stirn“: Grünen-Kandidatin Reintke warnt vor Rechtsruck bei EU-Wahl
Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke warnt vor einem Rechtsruck bei der Europawahl am 9. Juni: Extremisten wollen die EU lahmlegen und zurückbauen, sagt die 37-Jährige im Interview mit der MZ.
Halle/MZ - Fünf Jahre ist es her, dass die Grünen bei der Europawahl ein Rekordergebnis erzielten: 20,5 Prozent holte die Partei 2019 in Deutschland, es war fast eine Verdopplung der Wählerstimmen. Damals half den Grünen die neue Klimabewegung rund um die „Fridays for Future“-Demonstrationen – doch in diesem Jahr ist völlig offen, ob die Partei ihren Erfolg von damals wiederholen können. In Umfragen schwankte sie zuletzt zwischen elf und 17 Prozent.
MZ-Redakteur Jan Schumann sprach mit Grünen-Spitzenkandidatin und Fraktionschefin Terry Reintke über die Wahl des Europa-Parlaments am 9. Juni.
Frau Reintke, laut Umfragen sieht es nicht so aus, dass die Grünen ihr Ergebnis von 2019 wiederholen können. Wie wollen Sie es trotzdem schaffen?
Wir sind mitten im Wahlkampf, viele Menschen bilden sich jetzt ihre Meinung. Wir stehen gut da, unsere Partei hat richtig Lust auf Wahlkampf. Und: Ich erwarte in anderen Mitgliedsländern Zuwächse bei den dortigen Grünen, zum Beispiel in Süd- und Osteuropa. Viele Leute sehen jetzt, dass Grüne als Teil einer pro-europäischen Mehrheit die klimaneutrale Modernisierung unserer Wirtschaft voranbringen, um die Jobs und den Wohlstand der Zukunft in Europa zu halten. Wir verteidigen die Demokratie und den Rechtsstaat in Europa und bieten Autokraten wie Putin die Stirn. Daher bin ich optimistisch, dass in den nächsten Wochen noch viel drin ist.
Allerdings droht dem EU-Parlament möglicherweise auch ein Rechtsruck. Was wäre die größte Gefahr daran für Europa?
Wir müssen uns klarmachen, dass dann Dinge, die wir in den letzten Jahrzehnten für selbstverständlich gehalten haben, in Frage gestellt werden. Zum Beispiel, dass die Europäische Union auf gemeinsamen Grundwerten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbaut. Dort, wo Rechtsextreme und Autoritäre an die Macht kommen, versuchen sie, genau das kaputt zu machen. Es geht also um die Frage, ob wir als EU handlungsfähig bleiben.
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Denn eine Sache haben wir bereits in dieser Legislaturperiode gelernt: Rechtsextreme versuchen, die Europäische Union zu blockieren und teils zurückzubauen. Das wäre katastrophal in diesen unsicheren Zeiten. Wir müssen als Europäer stärker zusammenarbeiten, um Wohlstand zu erneuern, Klimaschutz voranzubringen und uns vor Putin und Co. zu schützen. Da geht es auch um unsere Sicherheit.
Auch die „Letzte Generation“ will bei der Wahl im Juni erstmals ins Europaparlament. Sind das für Sie Verbündete oder Konkurrenten?
Ich habe bisher erst wenige Äußerungen zu konkreten Inhalten oder Positionen wahrgenommen. Daher bleibt abzuwarten, wofür die Letzte Generation tatsächlich steht. Die zuletzt gewählten Protestformen waren aber nicht zielführend und haben dem Anliegen des Klimaschutzes eher geschadet. Klar ist: Ich werbe bei den Menschen dafür, ihr Kreuz bei den Grünen zu machen.
Sie fordern ein härteres Durchgreifen gegen Hass auf Online-Plattformen. Woran scheitert das bisher?
Wir haben in dieser Legislaturperiode bereits die Weichen mit dem Digitale-Dienste-Gesetz gestellt. Es gibt jetzt mehr Möglichkeiten, gegen Desinformationskampagnen vorzugehen. Doch das beste Gesetz nützt nichts, wenn da nur Tinte auf Papier steht. Es muss durchgesetzt werden.
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In der nächsten Legislatur wird sich zeigen, ob die Europäische Kommission bereit ist, es mit den großen Tech-Giganten wie Google und Meta aufzunehmen und ihnen zu sagen: ,Ihr müsst euch an geltendes Recht in der EU halten und endlich konsequent gegen Desinformation vorgehen.’ In ganz Europa verbreiten rechte Kräfte russische Propaganda, um unsere Demokratien zu destabilisieren. Dagegen müssen wir mit aller Kraft vorgehen.
An welcher Stelle muss die Europäische Union aus Ihrer Sicht nach der Wahl am dringendsten reformiert werden?
Das Einstimmigkeitsprinzip, also dass alle EU-Mitgliedstaaten für eine Entscheidung stimmen müssen, hemmt uns in wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Fragen. In Krisensituationen gilt es, schnell zu handeln. Dass es da eine Veto-Möglichkeit gibt, die beispielsweise der ungarische Präsident Viktor Orban nutzen kann, um uns zu erpressen, kann schnell zum Problem werden. In den vergangenen Jahren ist das sogar noch wichtiger geworden, wenn man sich die jüngsten Entwicklungen in Ländern wie Italien und der Slowakei ansieht. Natürlich müssen wir Entscheidungen in der Europäischen Union auf breite Mehrheiten aufbauen – aber sie sollten nicht durch die taktischen Interessen Einzelner gestoppt werden können.