Ungeliebte Großkreise in Sachsen-Anhalt Ungeliebte Großkreise in Sachsen-Anhalt: Daran rütteln will keiner - fast keiner

Magdeburg - Schlag Mitternacht beginnen die Glocken zu läuten, am Himmel explodieren Feuerwerkskörper. Es ist der Höhepunkt eines zweitägigen Festprogramms, in der Nacht zum 1. Juli 2007 feiern in Halberstadt 10.000 Menschen eine Fusion. Quedlinburg, Wernigerode und Halberstadt verschmelzen zum neuen Landkreis Harz. Mit einer Viertelmillion Einwohner entsteht hier der größte Landkreis Ostdeutschlands. Einen Schönheitsfehler hat das Ganze: Die Kreisstadt liegt gar nicht im Harz, sondern 20 Kilometer abseits.
Doch landschaftliche und historische Verbindungen müssen zurückstehen, auch anderswo im Land. Die Kreisreform von 2007 soll den Verwaltungen eine effiziente Größe schaffen und so Kosten sparen – das ist das wichtigste Ziel. Besonders hart trifft es Anhalt. Das Territorium, immerhin bis zum Kriegsende ein eigenständiges Land, wird vollständig zerpflückt.
Sachsen-Anhalt: Aus 21 Landkreisen werden elf
Zehn Jahre ist es her, dass per Gesetz aus 21 Landkreisen elf entstanden. Nur die beiden Kreise in der Altmark blieben, wie sie waren. Eine sinnvolle Operation? Bis heute überwiegt die Skepsis. In einer Befragung im Auftrag der AfD-Landtagsfraktion zeigten sich im Februar 2017 nur 29 Prozent der Wahlberechtigten „sehr“ oder „eher“ zufrieden - 45 Prozent hingegen waren „sehr“ oder „eher“ unzufrieden. Vor allem den Wählern der AfD passt die Reform überhaupt nicht.
Dabei wurde ein wichtiges Ziel tatsächlich erreicht: Heute arbeitet die Verwaltung deutlich effizienter als zuvor. 2006 standen bei allen Kreisverwaltungen zusammen 13.700 Vollzeitstellen zu Buche. Heute wird die Arbeit mit 10.300 Stellen erledigt. „Viele Mitarbeiter sind damals in Altersteilzeit gegangen“, sagt Heinz-Lothar Theel, Geschäftsführer beim Landkreistag Sachsen-Anhalt. „Landesgeld für Abfindungen gab es ja nicht, wir mussten den Personalabbau aus eigener Kraft bewältigen.“
Das Ergebnis des Schrumpfungsprozesses: Die Personalausgaben sind zwar nicht gesunken, aber über zehn Jahre mit neun Prozent vergleichsweise moderat angestiegen. Hätten die Landkreise die gleiche Belegschaft wie damals, wäre die Verwaltung für die Bürger deutlich teurer.
Uneinheitlich ist die Entwicklung bei Sachausgaben. Etliche Landkreise haben die Kosten für Gebäude deutlich gesenkt, wie das Innenministerium auf Anfrage der Landtagsabgeordneten Sarah Sauermann (einst AfD, heute fraktionslos) vorrechnete. Der Burgenlandkreis hat seine Mietzahlungen um fast die Hälfte gedrückt, in Wittenberg ist der Rückgang sogar noch größer. Andere Kreise hingegen zahlen sogar mehr als einst.
Der Grund ist, dass viele einstige Landratsämter bis heute als Außenstellen weiter betrieben werden. Ein Beispiel aus der Börde: Schon im Jahr 1994 hat die Stadt Wolmirstedt ihren Status als Kreisstadt verloren. Dennoch gibt es dort bis heute eine Außenstelle der Kreisverwaltung. Erst im kommenden Jahr wird sie geschlossen. Eine weitere Außenstelle in Oschersleben soll sogar dauerhaft erhalten bleiben.
Die Fusion zu nur noch elf Landkreisen (bei Erhalt der drei kreisfreien Städte Halle, Magdeburg und Dessau-Roßlau) ist ein Erbe der schwarz-gelben Regierungskoalition. Beschlossen wurde sie im Oktober 2005 – und weder die folgende Große Koalition noch die jetzige Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grünen rüttelten daran. Dabei gab es auch viel radikalere Pläne. Die Linke wollte nur noch fünf Landkreise haben, auch Jens Bullerjahn als damals starker Mann der SPD war ein Fan davon.
Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) ist froh, dass es dazu nicht kam. „Der Landkreis ist für die meisten Bürger eine abstrakte Verwaltungsstruktur, mit der sie nicht allzu oft zu tun haben“, sagt er. „Der Landrat aber ist sehr wichtig. Den muss man anfassen können. Deshalb bin ich ein strikter Gegner von größeren Kreisen.“
SPD-Minister Holger Hövelmann sieht „Rohrkrepierer“
Mit dem Ergebnis abgefunden haben sich auch die unterlegenen Politiker von einst. „Eine neue Reform ist derzeit nicht in Sichtweite, das wäre auch unrealistisch“, räumt Holger Hövelmann (SPD) ein. Er war Innenminister, als die Reform in Kraft trat. Damals ließ er kein gutes Haar an dem Projekt. Vor Genossen im SPD-Ortsverein Roßlau schimpfte er 2006 über einen „Rohrkrepierer“, über „ein Kind, das in einer schwachen Stunde entstanden ist“. Heute verweist Hövelmann nur auf das Ungleichgewicht bei den Einwohnerzahlen.
Tatsächlich liegen heute fünf Landkreise unter der damals ausgegebenen Richtgröße von 150.000 Einwohnern. Am weitesten von ihr entfernt sind der Altmarkkreis Salzwedel und das JerichowerLand mit 86.000 beziehungsweise 91.000 Menschen. Harz, Salzlandkreis, Saalekreis und Burgenlandkreis hingegen kommen auf mehr als 200.000 Bewohner.
Kaum mehr Kompetenzen
Aus Sicht des Landkreistages ist das kein Problem. „Im Schnitt liegen die Landkreise bei 153.000, das ist eine gute Größe“, sagt Geschäftsführer Theel. Bis heute bedauern die Kreise allerdings, dass vor zehn Jahren die Fläche gewachsen ist, die Kompetenzen jedoch kaum. Etliche Aufgaben hätten die Landräte nur zu gern vom Land übernommen - etwa im Bereich Landwirtschaft, beim Verbraucherschutz, die Schulaufsicht. Der damalige Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) kippte das Vorhaben jedoch.
Wird über Schwächen der Reform diskutiert, gerät regelmäßig Dessau-Roßlau in den Blick. Die Stadt konnte 2007 ihre Kreisfreiheit behaupten, ist seither aber weiter geschrumpft. Uwe Schulze (CDU), Landrat von Anhalt-Bitterfeld, plädiert offen für die nächste Fusion. „Anhalt-Bitterfeld rutscht in den nächsten Jahren unter die Marke 150.000. Zusammen mit Dessau-Roßlau und Wittenberg würde eine starke Gebietskörperschaft entstehen.“
Rein fachlich gebe es gute Gründe für einen Zusammenschluss, räumt auch Innenminister Stahlknecht ein. „Ich würde es dennoch nicht für opportun halten, die Stadt zu einer Kreisstadt zu degradieren“, sagt er. Der jetzige Status tue der Stadt gut, gerade mit Blick auf das Bauhaus-Jubiläum. Auch im Landtag möchte über eine erneute Kreisreform niemand reden.
In einem Punkt ist die Politik dem Wunsch vieler Bürger nach regionaler Identität entgegengekommen: bei den Autokennzeichen. Seit 2012 sind die Kürzel längst abgeschaffter Landkreise wieder zulässig – und viele Autofahrer greifen zu. Besonders ausgeprägt ist das im Landkreis Harz, der sein Entstehen mit prächtigem Höhenfeuerwerk gefeiert hatte. Heute sind bereits mehr Wagen mit den Kennzeichen Halberstadt (HBS), Quedlinburg (QLB) und Wernigerode (WR) unterwegs als mit dem 2007 eingeführten HZ für Harz. (mz)