Ein Jahr Ukraine-Krieg Flucht aus Kiew: Viktoriia Horobchuks Neustart in Halle zwischen Stärke und Verzweiflung
Viktoriia Horobchuk floh mit zwei Kindern aus der Ukraine nach Halle. Das vergangene Jahr hat ihr viel abverlangt. Warum das Ankommen so schwierig ist und welche deutlichen Worte sie für die Russen hat.

Halle (Saale)/MZ - Viktoriia Horobchuk wirkt abwesend, nicht so strahlend wie sonst. Sie antwortet kurz, dreht immer wieder den Kopf zur Seite, um ihren Sohn Yanek zu beobachten. Der Zweijährige rennt auf dem Außengelände seiner Kita in Halles Süden herum, befühlt an einem Baum die Zweige. Als sich ein größerer Junge nähert, geht die Ukrainerin dazwischen. „Ich muss ihn im Blick haben und beschützen“, sagt sie.
Ukraine-Krieg: Mutter flüchtet mit Kindern nach Halle
Die 36-Jährige ist in Habachtstellung, immer da, immer zuständig. So war es auch, als die Kiewerin mit ihren beiden Söhnen Yanek und dem heute 16-jährigen Danilo in Sachsen-Anhalt ankam. Die Drei waren damals am Tag des Angriffs auf die Ukraine sofort aus ihrer Heimatstadt geflohen. Sie haben ihr Zuhause verloren, viele Gewissheiten und mussten neu anfangen. Die MZ begleitet die junge Frau seit ihrer Ankunft in der Fremde.
Was die Flucht mit ihr gemacht hat, wie sie sich in diesen Monaten verändert hat – darauf antwortet Horobchuk zunächst mit einem langen Seufzen. „Ich weiß noch, dass ich am frühen Morgen in Kiew Explosionen gehört habe. Die ganze Stadt war wach, alle hatten Angst.“ Sie habe die Stadt verlassen, weil sie ihre Kinder und sich schützen musste, sagt sie.
Von den Vätern der Söhne lebte sie damals schon getrennt. Horobchuks flohen über mehrere Stationen nach Deutschland, sahen Szenen des Krieges, die sie heute kaum noch beschreiben wollen. „Die Bilder sind noch da“, sagt die Ukrainerin, „aber seltener.“ Sie musste funktionieren, für ihre Kinder stark sein, irgendwie ein neues Zuhause schaffen.

Ukrainische Familie in Halle: Sohn an Autismus erkrankt
Doch zur Wahrheit gehört auch, dass sie bis heute wenig Raum für sich hat, kaum Türen für eigene Ziele öffnen konnte. Die Sorge um den kleinen Yanek überlagert Vieles. „Seine Gesundheit steht an erster Stelle, dann komme ich“, sagt Horobchuk. Ihr Sohn ist Autist, die neurologische Entwicklungsstörung ist inzwischen diagnostiziert. „Ich musste in diesem Jahr erkennen, dass mein Kind schwer krank ist. Und ich greife nach jedem Strohhalm, um ihm zu helfen.“ Yanek spricht nicht, ist extrem auf seine Mutter fixiert, nimmt andere kaum wahr, lebt in seiner eigenen Welt.
Er hat eine Essstörung, er ekelt sich vor Vielem und isst es nicht. Damit er satt wird, mische ich Nährstoffe unter Joghurt.
Viktoriia Horobchuk, Ukrainerin
Vor ein paar Tagen war Horobchuk 24 Stunden wach, Yanek hatte nachts einfach nicht geschlafen und stattdessen gespielt. Das passiert immer wieder, für die Mutter ist es eine Tortur. Und manchmal, da weiß sie nicht weiter. Seit Oktober ist der Zweijährige in einer integrativen Kita, die Eingewöhnung geht schleppend voran. Er wurde durch Krankheiten herausgerissen, fehlt aber auch, weil er ohne nächtlichen Schlaf am Morgen nicht in die Kita gehen kann. Horobchuk ist noch immer mit vor Ort. Sie kann maximal kurz nach Hause, um eine Suppe zu kochen.
Nach Flucht aus der Ukraine: Mutter bekommt weder Sprachkurs noch Job
Um den Autismus ihres Sohnes besser zu verstehen, hat sie sich mit anderen betroffenen Müttern online vernetzt. Yanek bekommt ein pflanzliches Schlafmittel, besonderere Kost. „Er hat eine Essstörung, er ekelt sich vor Vielem und isst es nicht. Damit er satt wird, mische ich Nährstoffe unter Joghurt.“ Sie bestellt Nahrungsergänzungsmittel, schickt weiterhin Proben unter anderem vom Speichel an Labore beispielsweise in den Niederlanden.
„Alle drei Monate werden die Proben analysiert, um zu sehen, ob sich etwas verändert hat.“ Wie sie das bezahlt, hatten MZ-Leser nach einem Beitrag gefragt. „Von Erspartem, das ich noch in der Ukraine erarbeitet habe“, sagt sie.
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Horobchuk beschwert sich nicht. Sie erzählt das alles sachlich, schiebt negative Gedanken oft beiseite. „So ist die Situation, ich kann nur versuchen, sie besser zu machen.“ Einen Sprachkurs konnte sie nicht absolvieren, auch keine Arbeit beginnen. Das Jobcenter habe sich bei ihr gemeldet. Mithilfe von Online-Übersetzungshilfen beantwortet Horobchuk die Mails inzwischen selbst.
Großer Sohn als Beschützer
Viel Kraft gebe ihr der große Sohn Danilo. Schon während der Flucht hat er auch die Rolle des Beschützers übernommen. Er absolviert gerade ein berufsvorbereitendes Jahr, parallel lernt er für das Abitur mit dem Schwerpunkt Wirtschaft in der Ukraine. Er wird von dort aus online unterrichtet. „Wenn er aus der Schule kommt, kann ich Einkäufe erledigen oder auch kurz jemanden treffen.“
Die kleine Familie bewegt sich vor allem innerhalb einer ukrainischen Gemeinschaft in Halle. Auch Horobchuks Schwestern leben mit ihren Kindern um die Ecke. Es gibt wenig Kontakt zu Deutschen. Außer zur Gastfamilie aus Teutschenthal (Saalekreis), die die Drei nach der Flucht aufgenommen hatte.

Schwierige Ankunft in Halle
Das Ankommen bleibt schwierig. Was ihr Leben vor dem Krieg ausmachte, ihr Job als Friseurin, Familie, Freunde, vertraute Orte, unbeschwerter Alltag, das meiste davon hat sie verloren. Und damit Vieles, was Heimat ausmacht. „Wir leben hier in einem fremden Land mit einer fremden Sprache. Das ist nicht leicht, es gibt wenig Bezugspunkte“, sagt Horobchuk. Mit ihrer Familie in der Ukraine spricht sie jeden Tag. Ihre Mutter lebt in Kiew, der Stiefvater, die Oma. Über Weihnachten und Silvester war ihre Mutter zu Besuch in Halle.
„Mich hat das sehr aufgebaut. Sie hat nach all den Monaten zum ersten Mal ihre Enkel im Arm gehalten. Das waren emotionale Momente. Auch, weil sie jetzt einen anderen Blick auf Yanek hat. Er war damals ganz klein und nicht auffällig.“ Sie haben sich Halle angesehen, waren in Dresden, haben zusammen gekocht.
In Kiew hat die Mutter eine kleine Schneiderei, die Aufträge sind weniger geworden. Die Hauptstadt stand auch in den vergangenen Wochen unter Beschuss. „Meine Familie ist immun gegen die Angst geworden, auch ich bin es. Der Krieg ist normal, so seltsam das klingt. Man weiß nicht, wo und wann es passiert, man kann nicht jeden Tag in Panik leben. Sie haben ihre Wahl getroffen, indem sie geblieben sind.“ Die Oma sei krank, deshalb käme eine Flucht nicht in Frage.
Sorge vor russischer Großoffensive
Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. „Es wird ewig dauern“, sagt Horobchuk. Rund um den 24. Februar wächst auch die Befürchtung einer neuen Großoffensive der russischen Truppen. „Gott sei Dank ist unser Volk so stark, dass es keine Angst vor den Bomben hat.“ Horobchuk redet sich in Rage, wenn es um den Krieg geht. Sie schimpft und bittet, manche Sätze nicht zu zitieren. „Russland hat den Krieg verursacht. Das russische Volk hätte das verhindern können, indem sie nicht mitmachen. Aber sie haben mitgemacht, sie hören jeden Tag die Propaganda und glauben das alles.“ Dass Deutschland nach langem Ringen Leopard-2-Kampfpanzer liefern will, sei eine wichtige Hilfe, „es hätte früher passieren können. Die Ukraine braucht jede Unterstützung aus dem Westen“.
In Halle beugt sich die Kitaleiterin Anne Häfer zu Yanek, der über eine Leiter staunt. „Es wird besser, er hat Vertrauen gefasst und merkt, dass er keine Angst haben muss. Das ist die Basis, um eine Förderung beginnen zu können.“ So kommt nun eine Logopädin in die Einrichtung. Er soll dort bald regelmäßig Mittagsschlaf machen. Für Yanek stehen demnächst auch weitere Untersuchungen an. Mit den Vätern der Kinder besteht nur teilweise Kontakt. Danilos Vater lebt mit der neuen Familie inzwischen auch im Saalekreis. Wie das Verhältnis zu Yaneks Vater ist, darüber will Horobchuk nicht sprechen. Würde sie zurückgehen, falls es in der Ukraine Frieden gibt? „Ich weiß es nicht“, sagt sie. „Vielleicht. Hier habe ich nur meine Kinder, dort meine Heimat.“