Streitkräfte in der Altmark Streitkräfte in der Altmark: Geisterstadt der Krieger

Schnöggersburg - Im Konvoi geht es durch die Letzlinger Heide. Von unten schlagen die Steine an das Auto, auf Schotterpisten geht es hoch und runter, mal geradeaus, dann wieder links und rechts. Selbst der Fahrer verliert die Orientierung und muss sich lotsen lassen. Kurz ist eine Kaserne mit Panzern und Militärfahrzeugen zu sehen, dann minutenlang nur Heidekraut, Birken und Kiefern. Bis aus dem Nichts eine Stadt am Horizont auftaucht.
Hier in der Altmark nördlich von Magdeburg, dem am dünnsten besiedelten Gebiet Deutschlands, will die Bundeswehr für den Krieg der Zukunft üben. Und stampft deshalb für 140 Millionen Euro eine Geisterstadt aus dem Boden. Mit Wohnhäusern, Bauernhöfen, Flugplatz, Stadion. Und Sachsen-Anhalts einziger U-Bahn, die nie fahren wird.
Im Jagdrevier des Kaisers
Schnöggersburg soll die Stadt heißen, benannt nach dem Luftkurort, den es irgendwo auf dem rund 24 000 Hektar großen Areal einmal gab. Der Kaiser hatte dort sein Jagdrevier, die Wehrmacht testete später Munition und haute dafür eine 30 Kilometer lange Schneise in den Wald. Bis zur Wende übten die Sowjets mit bis zu 20 000 Soldaten den Kriegsfall.
Im März 2020 sollen die Bauarbeiten des „Urbanen Ballungsraums“, wie Fachleute die Geisterstadt nennen, fertig sein. Dann ist die Schnöggersburg nach acht Jahren Bauzeit einzigartig in Europa. 181 Gebäude, 16 500 Meter Straßen, 1 500 Meter Gleis, ein Kanal mit sechs Brücken, 350 Meter U-Bahn mit drei Aufgängen, die Flughafen-Abfertigungshalle, zu der eine 1 700 Meter lange Behelfslandebahn gehört. Nur die USA und die Vereinigten Arabischen Emirate leisten sich vergleichbare Einrichtungen.
„Die derzeitigen Krisen und Erfahrungen zeigen, dass der Krieg in die Städte getragen wird“, sagt Oberst Uwe Becker. Er ist spezialisiert auf die Ausbildung und Einsatzvorbereitung der Soldaten. Asymmetrische Gegner wie Terrororganisationen bräuchten Städte als Machtzentren. „Dort können sie ihre Stärken im Häuserkampf ausspielen“, erklärt er. Das seien die komplexesten und gefährlichsten Einsätze für Soldaten. Darauf müssten sie vorbereitet werden.
„Nicht nur im Kampf“, hebt Becker hervor. Es seien auch interkulturelle Fähigkeiten und der Umgang mit Zivilisten gefragt. Die Bundeswehr sieht die Übungsstadt mit allen ihren Facetten als eine Art Lebensversicherung.
Jede Region der Welt soll sich in Schnöggersburg wiederfinden lassen. Der Ort ist so etwas wie ein städtebaulicher Schmelztiegel. Das Gotteshaus, das nüchtern Sakralbau genannt wird, sieht mit seinen verschnörkelten Fenstern und den zwei Türmen, auf denen kleine Kuppeln sitzen, aus wie eine Mischung aus Kirche und Moschee. Jede Fassade im Wohngebiet ist grau, nur die Dächer sind rot eingedeckt. Lediglich die Form lässt erahnen, dass das Gebäude, das wie ein langer Schlauch um die Ecke geht, eine Schule ist. „Das bleibt auch so, hier wird nichts angestrichen“, erläutert Oberst Hagen Breuer, der die riesige Baustelle betreut. Auch Einrichtungsgegenstände werde es nicht geben. Schnöggersburg ist nur ein Rohbau aus witterungsbeständigem Autobahnbeton.
Trist und grau
Obwohl alles trist und grau ist, rufen die verschiedenen Stadtteile Assoziationen hervor. Gerade noch im luftigen Neubaugebiet mit Vorgärten, ein paar Meter weiter auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt mit sechs hölzernen Wachtürmen. Geht man in die andere Richtung, steht man mitten in der Altstadt. Um den Marktplatz sind die dreistöckigen Häuser im Kreis angeordnet. Die Polizeiwache sticht heraus, sie hat Gitter vor den Fenstern. Die Apotheke ist nicht von dem Bürogebäude, das links daneben steht, zu unterscheiden. „Merken Sie was? Hier ist alles eng. Schmale Gassen. Die Sichtachsen sind versperrt. Man weiß nicht, was auf einen zukommt. Wer hinter der Mauer lauert. Darauf kommt es an“, sagt Oberleutnant Stephan Arend zackig. Ein Marinesoldat, der mit Gefechtsübungen an Land eigentlich nicht viel zu tun hat. Doch durch sein Bauinigenieursstudium kam er zum Kompetenzzentrum Baumanagement im brandenburgischen Strausberg, das Schnöggersburg mit entworfen hat. Immer mit dem Ziel, die späteren Übungen so realitätsnah wie möglich wirken zu lassen.
Der Aufwand ist enorm. Fünf Brücken, die über den Kanal führen, können auseinandergefahren werden und ihre Zerstörung nachstellen. Ein einfacher Hinweis hätte laut Bundeswehr nicht ausgereicht. Schließlich soll auch der Rückzugsweg simuliert werden. Pioniere können dank der Spezialbauten proben, notdürftige Brücken zu bauen. Kostenpunkt: 1,2 Millionen Euro. Der Sakralbau kommt auf rund 400 000 Euro, der Flugplatz mit Behelfslandebahn, auf der schon eine Transall landete, auf etwa 650 000 Euro. Jedes Gebäude ist für das Konzept wichtig, den Rotstift ansetzen deshalb schwierig. „Es kommt auf die Gebäude und ihre Anordnung an“, sagt Oberstleutnant Becker. Dagegen sind farbige Mauern, Teppiche, Tische oder Betten unnötig. Manchmal scheitert die perfekte Simulation aber an deutschem Arbeitsschutz. Auf jedem Dach muss es eine Brüstung geben.
Kein einziger Schuss
Zur Sicherheit gehört auch, dass keine scharfe Munition verwendet wird. Kein einziger Schuss wird hier fallen. Dass es trotzdem Gefechte gibt, liegt an „Masie“, Bundeswehrsprech für „Mobiles Auswertesystems Infanteristischer Einsatz“. Die komplette Stadt wird verkabelt, ebenso wie die Soldaten. An ihren Gewehren stecken dann Laser, Sensoren am Körper registrieren die Treffer. Sogar die Verwundungen können so während der Übung nachgestellt werden. Auch die Fahrzeuge melden in Echtzeit, ob sie zerstört sind oder nicht. Wenn Oberstleutnant Becker davon erzählt, wirkt es wie ein gigantisches Computerspiel.
Schon 2018 sollen die ersten Häuserkämpfe beginnen. Dann ist die Teilübergabe des nordwestlichen Bereichs mit einem Elendsviertel und der Altstadt, die jetzt zu 85 Prozent fertig ist, geplant. Dort werden Gegner als Scharfschützen auf den Dächern lauern. Sich die Soldaten in Häusern verschanzen, in den schmalen Gassen aus den Augen verlieren und versuchen, trotzdem eine funktionierende Einheit und am Leben zu bleiben. Immer mit dem Wissen, dass die Übung irgendwann Realität werden könnte. (mz)
(mz)
