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Sexualverbrechen MeToo wirkt in Sachsen-Anhalt: Ein Drittel mehr Vergewaltigungen angezeigt

In Sachsen-Anhalt wird fast jeden Tag eine Vergewaltigung angezeigt. Die Fallzahlen sind im vergangenen Jahrzehnt deutlich gestiegen. Wer die Täter sind und warum der Anstieg auch mit dem Mut der Opfer zu tun hat.

Von Max Hunger Aktualisiert: 09.08.2024, 18:38
Seit 2017 rufen Frauen im Rahmen der sogenannten MeToo-Bewegung weltweit dazu auf, Sexualverbrechen anzuzeigen. Das zeigt auch in Sachsen-Anhalt Wirkung.
Seit 2017 rufen Frauen im Rahmen der sogenannten MeToo-Bewegung weltweit dazu auf, Sexualverbrechen anzuzeigen. Das zeigt auch in Sachsen-Anhalt Wirkung. (Foto: IMAGO/Zoonar)

Halle (Saale)/MZ - In Sachsen-Anhalt werden immer mehr schwere sexuelle Übergriffe angezeigt. In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen um rund ein Drittel. 2023 zählte die Polizei 312 Fälle – das entspricht rechnerisch sechs pro Woche. Im Jahr 2013 waren es insgesamt über 100 weniger. Das geht aus Daten des Landeskriminalamtes (LKA) hervor. Über 90 Prozent der Opfer sind Frauen, in mehr als drei Vierteln der Fälle stammte der Täter aus der Familie oder dem Bekanntenkreis.

Sexueller Missbrauch: Mehr Vergewaltigungen in Sachsen-Anhalt angezeigt

Eine Vergewaltigung gilt laut Gesetz als „besonders erniedrigende“ sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers und wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bestraft. In Sachsen-Anhalt zählte die Polizei zuletzt 31 Vergewaltigungen im öffentlichen Raum, fünf in Autos, dreimal war der Ort unbekannt.

Mit 273 Fällen geschahen die meisten Taten in privaten Räumen. Zudem hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter den Betroffenen seit 2013 mehr als verdoppelt – fast jedes dritte Opfer war zuletzt minderjährig.

Mehr Vergewaltigungen angezeigt: Opfer in Sachsen-Anhalt werden mutiger

Die Ursachen für den Anstieg verrät die Statistik indes nicht. Ohne wissenschaftliche Untersuchung seien die kaum auszumachen, sagte LKA-Sprecher Michael Klocke. „Gleichwohl halte ich folgenden Ansatz für naheliegend: Die gestiegene Bereitschaft der Opfer, Übergriffe anzuzeigen“, so Klocke. Ein Grund könnte die sogenannte MeToo-Bewegung sein. Seit 2017 rufen Frauen weltweit unter diesem Motto dazu auf, Sexualstraftaten anzuzeigen. „Dies könnte darauf hindeuten, dass Opfer sich eher trauen, zur Polizei zu gehen.“

Ihr Fetisch ist fast immer, dass sie das Zepter in der Hand haben.

Michaela Böttcher / Sozialtherapeutin

Eine Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt ist der Verein Wildwasser. In Dessau-Roßlau berät Michaela Böttcher seit 31 Jahren auch Frauen, die vergewaltigt wurden. Laut ihrer Erfahrung folgen die Taten oft demselben Muster: Sie geschehen aus dem sozialen Umfeld heraus – etwa durch den Ex-Freund, den Stiefvater oder innerhalb einer Clique. „Die Täter nehmen Frauen mit geringem Selbstwertgefühl in den Blick.“

Opfer von Sexualverbrechen leiden oft lange

Zu Beginn gebe sich der Täter dann liebevoll, mache Komplimente. Schließlich zwinge er das Opfer in eine Abhängigkeit, so die Sozialtherapeutin. Dabei könne es um Geld, Zuneigung oder Drogen gehen. „Ihr Fetisch ist fast immer, dass sie das Zepter in der Hand haben.“ Aus diesem Machtgefüge folge manchmal eine Vergewaltigung. „Sie fallen nicht über das Opfer her, sondern fordern nach und nach mehr von ihnen ein.“ Für die Betroffenen bedeute diese Erfahrung meist einen langen Leidensweg. „Ein großer Teil der Opfer leidet unter Schuldgefühlen.“ Häufige Folgen: Depression, Essstörungen, Selbstverletzung.

„Es wirkt in massiver Weise auf den Körper, auf die Seele und auf das Soziale“, sagte Astrid Herrmann-Haase von der Arbeiterwohlfahrt in Halle. Auch die Traumafachberaterin vermutet ein verändertes Anzeigeverhalten als Grund für die gestiegenen Fallzahlen. „Sexualisierte Gewalt wird thematisiert, dies führt auch dazu, dass mehr betroffene Personen sich trauen, eine Strafanzeige zu erstatten“, so Herrmann-Haase.

Wie aber lassen sich die Taten verhindern? Michaela Böttcher plädiert dafür, mehr Bewusstsein zu schaffen: „Schon Kinder müssen lernen: Das dürfen Erwachsene, das dürfen sie nicht.“ Die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ vermittelt das in Sachsen-Anhalt etwa durch Theaterstücke. Sie wünsche sich dafür eine dauerhafte Finanzierung. Astrid Herrmann-Haase betont auch die Rolle der Aufarbeitung. Geschehe sexuelle Gewalt, dürfe sich nicht nur mit der Vermeidung befasst werden. Die Sexualwissenschaftlerin nennt zudem ein Mittel, das wohl für alle Maßnahmen gilt: das „Drübersprechen“.